Johannes Scheffler: Ich will dich lieben, meine Stärke

Liebe Schwestern und Brüder,

was passiert, wenn ein Kirchenlieddichter seine Kirche verlässt? Bei der Erstellung des neuen Gotteslobes im Jahr 2013 trat diese Frage beim katholischen Dichter Huub Oosterhuis (*1933) auf. Wegen seiner späteren Hinwendung zur evangelischen Kirche, nach vorangegangenen Konflikten hinsichtlich des katholischen Priesteramtes, war die Hereinnahme von Gesängen des holländischen Theologen in das Gesangbuch der niederländischen Kirche nicht unumstritten. Manche seiner Lieder wurden für den liturgischen Gebrauch tatsächlich als ungeeignet befunden. Dennoch wurden in unser neues Gotteslob, wie bereits in die vorherige Ausgabe, mehrere Gesänge von Huub Oosterhuis aufgenommen, so auch das Lied „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ (GL 422).

Vor vierhundert Jahren war es beim Kirchenlieddichter Johannes Scheffler (1624-77) genau umgekehrt. Der in Breslau Geborene Sohn einer polnischen Adelsfamilie empfängt an Weihnachten 1624 die evangelische Taufe, konvertiert jedoch mit 35 Jahren zur katholischen Kirche. Seine bekannten Lieder wie „Ich will dich lieben, meine Stärke“ (GL 358) oder „“Mir nach“, spricht Christus, unser Held“ (GL 461), fanden natürlich Eingang in das katholische Gebet- und Gesangbuch, sind aber ebenso im ev.-luth. Kirchengesangbuch vorzufinden (EKG 385 + 400).

Rigorose Maßnahmen wegen konfessioneller Trennung sind erfreulicherweise nicht angesagt. Sie würden auch nicht hineinpassen in eine inzwischen gewachsene ökumenische Durchlässigkeit. Ursprünglich katholisches Liedgut ist im evangelischen Kirchengesangbuch ebenso vorzufinden wie evangelisches Liedgut im katholischen Gotteslob, selbst dann, wenn ein Kirchenlieddichter seine angestammte konfessionelle Zugehörigkeit hinter sich lassen sollte.

Johannes Scheffler, mehr bekannt unter seinem Pseudonym Angelus Silesius (= schlesischer Engel), lebte in schwerer Zeit. Der dreißigjährige Krieg 1618-48 überzog viele Teile Europas, unzählige Menschen kamen ums Leben, wurden verletzt. Verheerende Krankheiten und Seuchen breiteten sich aus. Kaum eine Familie, die nicht von den schrecklichen Folgen dieser dunklen Zeit betroffen war. Bei einer allgegenwärtigen Trostlosigkeit war es verständlich, sich viele in den Innenraum des Lebens zurückzogen. Eine mystisch geprägte individuelle Frömmigkeit kam auf. In diese schwere Zeit hinein schreibt Angelus Silesius seine geistlichen Verse nieder im Buch „Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder der in Jesum verliebten Psyche“.

Jahrzehnte zuvor verließ die Familie Scheffler wegen ihres evangelischen Glaubens den angestammten Wohnsitz Krakau und siedelte um nach Breslau. Die Hauptstadt Schlesiens hatte sich schon früh für die Anliegen der Reformation geöffnet. Der heranwachsende Johannes, der schon sehr bald durch einen frühen Tod seine Eltern verlor, besuchte das Gymnasium in Breslau. Hier schrieb er bereits erste lateinische Gedichte.

In Straßburg begann Angelus Silesius ein Studium der Medizin und des Staatsrechts, ging nach Leiden und schließlich an die Universität Padua. Dort promovierte er zum Doktor der Philosophie und der Medizin. Als Leibarzt arbeitete er schließlich auf dem östlich von Breslau gelegenen Gut Oels für den streng lutherischen Herzog Silvius Nimrod zu Württemberg-Oels.

Während seines Studiums entdeckte Johannes Scheffler einige Werke Jakob Böhmes (1575-1624). Den aus Görlitz stammen Mystiker und Philosophen nennt Johannes Scheffler später als Hauptgrund, sich im weiteren Verlauf seines Lebens der katholischen Kirche anzuschließen. Im Jahr 1653 vollzieht er diesen Schritt. Ab diesem Zeitpunkt trägt er den Namen „Angelus“, der dann mit „Silesius“ erweitert wurde.

Sein konfessioneller Übertritt erregte Aufsehen und rief von protestantischer Seite Kritik hervor. In einer Rechtfertigungsschrift wird Angelus Silesius als Motiv angeben, in der evangelischen Kirche gäbe es zu viel Mangel an Mystik, denn diese sei eine hohe Weisheit der Christenheit. Konsequenterweise veröffentlichte Angelus Silesius recht bald seine berühmten „Geistreiche Sinn- und Schlussreime“. Diese wurden versehen mit der Überschrift „Der Cherubinische Wandersmann“. Darin enthalten sind lesenswerte poetische Schriftstücke. Bekannt ist u.a.: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest ewiglich verloren“.

In Neisse wurde Angelus Silesius 1661 für die Erzdiözese Breslau zum Priester geweiht. Als unerschrockener Streiter arbeitete er für den Breslauer Fürstbischof. Bis zu seinem Tod lebte Angelus Silesius weitgehend zurückgezogen als Arzt für Arme und Kranke. Er verschenkte sein Vermögen und sorgte für die Ausbildung von Waisenkindern. Als Arzt half er unentgeltlich mittellosen Patienten. Vom asketischen Leben aufgezehrt starb Angelus Silesius nach längerer Krankheit und wurde in der Breslauer Matthiaskirche beigesetzt.

Im Buch „Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirtenlieder der in Jesum verliebten Psyche“ finden wir das Lied: „Ich will dich lieben, meine Stärke, ich will dich lieben, meine Zier“. Angelus Silesius knüpft an das biblische „Hohelied der Liebe“ an. Hierin wird die Liebe zwischen der Seele, also der Braut, und Christus, dem Bräutigam, als eine mystische Vereinigung beschrieben. Der Geliebte wird bewundert, er verlockt durch Stärke, Zier und Schönheit. Er ist zugleich das Leben schlechthin, höchstes Gut, wahre Ruhe, Krone, Licht und Glanz. Das Wort „Gott“ verkommt in diesem Zusammenhang nicht zu einem theologischen Begriff, sondern will im mystischen Sinn als geliebtes Gegenüber und zugleich als Angebeteter verstanden sein.

Die Braut selber, also der sündhafte Mensch, ist kein unbeschriebenes Blatt. Einst hatte sie sich an den Falschen verschwendet, deswegen der Seufzer: „Ach, dass ich dich so spät erkannte.“ Es gab Zeiten, da liebte der sündhafte Mensch vornehmlich das geschaffene Licht. Christus ist jedoch das wahre Licht des Lebens. Stets tiefer von seinem göttlichen Licht durchdrungen zu werden, ist daher der innige Wunsch des Geliebten: „Erleucht mir Leib und Seele ganz, du starker Himmelsglanz“.

Mystische Liebe kennt keine Trennung, auch nicht im Tod. „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (8,6) heißt es im „Hohen Lied der Liebe“. Die Worte der letzten Strophe „Bis mir das Herze bricht“, sind daher als eine glaubensmäßige Aussage zu verstehen. Irdisches und Jenseitiges werden nun zusammengefügt. In seiner liebenden Sehnsucht wartet der Mensch auf eine ewige Erfüllung. Im Himmel kann das Herz nicht mehr brechen, daher wird im Himmel die Liebe einmal vollkommen und vollendet sein.

Diese Liedstrophen standen stets unter dem Verdacht, wohl eine andachtsvolle Innerlichkeit zu erzielen, dabei aber eine tragfähige Liebe zum Nächsten außer Acht zu lassen. Einigen Gläubigen kommt zudem die Sprache der Liebe sehr dicht daher, so dass sie einem fast den Atem nehmen. Doch spätestens mit dem Aufkommen des romantischen Zeitgeistes wurden die Verse des Schlesischen Engels in beiden Kirchen gern gesungen, verhelfen sie doch dem gläubigen Menschen in schwerer Zeit zu neuem Lebensmut und schenken dem getauften Christen eine neue Zuversicht und Hoffnung.

Durch seine einfühlsame poetische Sprache christlichen Glaubens gibt Angelus Silesius als Kirchenlieddichter den Christen aller Konfessionen eine geistlich reiche Gebetshilfe mit auf den Weg. Auch für die Menschen unserer Zeit gilt das Wort des großen Theologen Karl Rahner (1904-84): „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“ Folgen wir dieser prophetischen Weisung, damit die tiefe Sehnsucht eines jeden Menschen nach Einheit und Geborgenheit in Gott bereits hier auf Erden Erfüllung finden kann.

Zu Ihrer persönlichen Betrachtung sind die Strophen des Liedes nachfolgend aufgeführt:

1. Ich will dich lieben, meine Stärke,
ich will dich lieben, meine Zier;
ich will dich lieben mit dem Werke
und immerwährender Begier!
Ich will dich lieben, schönstes Licht,
bis mir das Herze bricht.

2. Ich will dich lieben, o mein Leben,
als meinen allerbesten Freund;
ich will dich lieben und erheben,
solange mich dein Glanz bescheint;
ich will dich lieben, Gottes Lamm,
als meinen Bräutigam.

3. Ach, dass ich dich so spät erkannte,
du hochgelobte Schönheit du,
dass ich nicht eher mein dich nannte,
du höchstes Gut und wahre Ruh;
es ist mir leid, ich bin betrübt,
dass ich so spät geliebt.

4. Ich lief verirrt und war verblendet,
ich suchte dich und fand dich nicht;
ich hatte mich von dir gewendet
und liebte das geschaffne Licht.
Nun aber ist’s durch dich geschehn,
dass ich dich hab ersehn.

5. Ich danke dir, du wahre Sonne,
dass mir dein Glanz hat Licht gebracht;
ich danke dir, du Himmelswonne,
dass du mich froh und frei gemacht;
ich danke dir, du güldner Mund,
dass du mich machst gesund.

6. Erhalte mich auf deinen Stegen
und lass mich nicht mehr irregehn;
lass meinen Fuß in deinen Wegen
nicht straucheln oder stillestehn;
erleucht mir Leib und Seele ganz,
du starker Himmelsglanz.

7. Ich will dich lieben, meine Krone,
ich will dich lieben, meinen Gott;
ich will dich lieben sonder Lohne
auch in der allergrößten Not;
ich will dich lieben, schönstes Licht,
bis mir das Herze bricht.

Pfarrer Wolfgang Guttmann