Gerhard Tersteegen: Gott ist gegenwärtig

Liebe Schwestern und Brüder,

weshalb besuchen Christen sonntags zur Feier des Gottesdienstes eine Kirche? Die Antworten darauf können so vielfältig sein, wie die Anzahl der Kirchenbesucher. In jedem Fall wird während des Gottesdienstes gebetet und gesungen. Ein gemeinsames Gesang- und Gebetbuch ist die Voraussetzung dazu, dass unter den Gottesdienstbesuchern so etwas wie ein Wir-Gefühl unter Gläubigen aufkommt. Nun haben die jeweiligen Konfessionen ihr jeweils eigenes Gebet- und Gesangbuch. Erfreulicherweise gibt es in beiden ein Reihe von Liedern, die sowohl im Gesangbuch der evangelischen Kirche als im Gebet- und Gesangbuch der katholischen Kirche, Gotteslob (GL), wiedergegeben sind. Zu diesen Liedern gehören auch einige von Gerhard Terstegen (1697-1769). Von ihm sind im neuen Gotteslob wiedergegeben das Weihnachtslied „Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket ihr Engel in Chören“ (GL 251) und das Lied „Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten“ (GL 387).

Von diesem niederrheinischen Kirchenlieddichter ist als Liedstrophe ebenso bekannt: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart“, welche noch heute wie ein andächtiges Gute-Nacht-Lied beim Großen Zapfenstreich der Bundeswehr aufgespielt wird. Als 4. Strophe gehört diese zum Anbetungslied „Für dich sei ganz mein Herz und Leben“. Dieses Lied ist allerdings nur im evangelischen Gesangbuch wiedergegeben.

Als Anhänger eines reformierten Pietismus besaß Gerhard Tersteegen eine innere Nähe zur katholischen Kirche. Dabei taten es ihm beispielsweise Werke der Mystikers Johannes Tauler (1300-61) sowie der Mystikerin Teresa von Ávila (1515-82) an, deren Werke er in die Sprache seiner Zeit übersetzte. Unter dem Pietismus (= lat. pietas: fromm) ist eine schon bedeutende Reformbewegung im Zuge der Reformation zu verstehen. Im Mittelpunkt stand dabei weniger eine kirchliche Größe. Im Zentrum steht vielmehr der fromme Mensch als ein „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19). Der aufkommende Reformierte Pietismus (ab 2. Hälfte 17. Jh.) führte wiederum eine Kirchenordnung und verbindliche Gemeindestrukturen ein.

Das Anliegen Gerhard Tersteegens ist in seinen Werken stets erkennbar: die Gegenwart Gottes im Innern des Menschen. Der in Moers am Niederrhein Geborene wächst in einem frommen Elternhaus mit insgesamt acht Geschwistern auf. Der Vater stirbt früh. Die Mutter kann danach dem wissbegierigen Jungen keine Ausbildung finanzieren. Über den Schwager steigt er zunächst ein in die Welt der Kaufleute, anschließend der Handwerker. Das Führen eines geistlichen Lebens aber bleibt seine ungestillte Sehnsucht.

Vor diesem Hintergrund gibt Gerhard Tersteegen seine Berufsausübung auf, lässt er sich vielmehr von der Teilnahme an Erbauungsstunden ergreifen. Er wird Laienprediger und entwickelt sich zum Mystiker des Reformierten Pietismus mit Wirkungsfeld in der Gegend des Niederrheins einschließlich einiger Teile Hollands.

Für Gerhard Tersteegen kennt ein Mystiker keine Berührungsängste gegenüber anderen Konfessionen oder Religionen. In seiner ökumenischen Offenheit bleibt nicht an seiner ursprünglichen Konfession hängen. Er lässt sich ermutigen von allen, die, genauso wie er, einen geistlichen Weg nach Innen wagen. Ihn interessiert die Lebensgeschichte anderer überzeugender Glaubensgestalten. In seinem Werk „Auserlesene Lebensbeschreibung Heiliger Seelen“ sind daher auch viele katholische Heilige beschrieben.

Gerhard Tersteegen fühlt sich innerlich ergriffen von der Gegenwart Gottes. Mit 27 Jahren verdichtet sich seine seelische Betroffenheit. Buchstäblich mit seinem eigenen Blut wird Gerhard Tersteegen, der sein ganzes Leben ehelos blieb, sich Christus verschreiben. Der Mystiker übergibt mit der Schrift seines Blutes sein persönliches Leben der Liebe seines Lebens, der göttlichen Liebe. Nur ein tief Glaubender kann diese außerordentliche Geste verstehen.

Dem Glauben an Gott nicht nur eine kleine Nische geben, sondern ihm eine allumfassende Aufmerksamkeit schenken, ist seine tiefe Glaubensaussage. Sein Lied „Gott ist Gegenwärtig. Lasset uns anbeten und in Ehrfrucht vor ihn treten“ will diese Glaubensgewissheit zum Ausdruck bringen. Er erinnert sich an das biblische Ereignis in der Wüste, wo Mose aus dem brennenden Dornbusch die Stimme Gottes hört: „Ich bin der, der ich bin da“ (Exodus 3,14).

Weshalb besuchen Christen sonntags zur Feier des Gottesdienstes eine Kirche? Gut zu wissen, dass Gott nicht nur in der Kirche zu Hause ist. Es gibt tatsächlich keinen Ort in der sichtbaren und unsichtbaren Welt, wo Gott nicht da wäre. Selbst im Tod ist Gott gegenwärtig, wenn Christen im Glaubensbekenntnis sprechen: „Jesus Christus, hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Wenn Christen eine Kirche aufsuchen, dann erinnern sie sich durch Gebet und Gesang daran, dass ein glaubender Mensch nie allein ist, weil Gott da ist: Gott ist gegenwärtig.

„Kommt, ergebt euch wieder“, heißt es hingebungsvoll am Ende der ersten Strophe. Aber auch: „Kommt, erhebt euch wieder“, lautete eine bemerkenswerte Textneugestaltung bereits während der Lebenszeit Gerhard Tersteegens, die allerdings in den Gesangbüchern nicht weiter verfolgt wurde. „Kommt, erhebt euch wieder“ wird den Worten Jesu aus dem Johannesevangelium mehr gerecht: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt“ (15,15).

Unabhängig davon darf ich Ihnen das Lied „Gott ist gegenwärtig“ zur persönlichen Lektüre sowie zur Betrachtung empfehlen:
1. Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt, wer ihn nennt,
schlag die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder.

2. Gott ist gegenwärtig, dem die Cherubinen
Tag und Nacht gebücket dienen.
Heilig, heilig, heilig! singen ihm zur Ehre
aller Engel hohe Chöre.
Herr, vernimm unsre Stimm,
da auch wir Geringen
unsre Opfer bringen.

3. Wir entsagen willig allen Eitelkeiten,
aller Erdenlust und Freuden;
da liegt unser Wille, Seele, Leib und Leben
dir zum Eigentum ergeben.
Du allein sollst es sein,
unser Gott und Herre,
dir gebührt die Ehre.

4. Majestätisch Wesen, möcht ich recht dich preisen
und im Geist dir Dienst erweisen.
Möcht ich wie die Engel immer vor dir stehen
und dich gegenwärtig sehen.
Lass mich dir für und für
trachten zu gefallen,
liebster Gott, in allem.

5. Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder:
ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir,
lass mich ganz verschwinden,
dich nur sehn und finden.

6. Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.

7. Mache mich einfältig, innig, abgeschieden,
sanft und still in deinem Frieden;
mach mich reines Herzens, dass ich deine Klarheit
schauen mag in Geist und Wahrheit;
lass mein Herz überwärts
wie ein’ Adler schweben
und in dir nur leben.

8. Herr, komm in mir wohnen, lass mein’ Geist auf Erden
dir ein Heiligtum noch werden;
komm, du nahes Wesen, dich in mir verkläre,
dass ich dich stets lieb und ehre.
Wo ich geh, sitz und steh,
lass mich dich erblicken
und vor dir mich bücken.

Pfarrer Wolfgang Guttmann