Liebe Schwestern und Brüder,
„Zart ist der Faden der Freundschaft, doch unzertrennlich wie jene Kette, die Himmel und Meer und die Gestirne umschlingt“, schreibt Georg Freiherr von Hardenberg (1772-1801). An diesen Satz des deutschen Lyrikers, besser bekannt unter seinem Pseudonym Novalis, mag man sich erinnern hinsichtlich der aktuellen Entscheidung der Briten. Die Mehrheit der britischen Bevölkerung kündigt die Freundschaft mit dem Rest Europas auf und will nun eigene Wege gehen.
Wenn von Europa gesprochen wird, dann ist in der Regel gemeint eine politische, wirtschaftliche und rechtliche Verflechtung souveräner Staaten. Doch reicht das für den Zusammenhalt einer großen Völkergemeinschaft aus? Führende Europapolitiker wiesen von Anfang an mahnend darauf hin, dem bevorstehenden geeinten Europa habe man auch eine Seele zu geben, d.h. die Völker Europas sollten sich neu an ihre biblisch-christlichen Wurzeln erinnern.
Vor über 200 Jahren träumte Novalis seinen romantischen Traum von einem geeinten Europa. Neben der Wiedervereinigung der christlichen Kirchen wuchs in ihm die Erfüllung der Sehnsucht, in Frieden zusammenzuleben. Für den bedeutenden Dichter der Frühromantik war dies jedoch nur möglich, wenn eine allgemeine Ansicht von Lebensweisheiten die Mehrheit der Menschen beseelte.
„Unzertrennlich ist jene Kette, die Himmel und Meer und die Gestirne umschlingt“, schreibt Novalis. Jetzt, wo Britannien sich organisatorisch lossagt vom übrigen Europa, bedeutet es noch lange nicht, dass das Inselvolk nicht mehr zu Europa gehört. Die Geographie bleibt. Unvergessen bleibt auch der missionarische Eifer, mit dem einst iro-schottische Mönche ab dem 6. Jh. auf das europäische Festland kamen. Bis nach Oberitalien erstreckte sich deren bemerkenswerte Missionstätigkeit.
Mit dem hl. Kolumban (542-615) verließ um das Jahr 590 zum ersten Mal ein Mönch die Britischen Inseln, um auf dem europäischen Festland das Evangelium Jesu zu verkünden. Der aus Irland stammende Kolumban gründete in Europa mehrere Klöster, das südlichste davon im oberitalienischen Bobbio. Dort wird noch heute wo sein Grab verehrt.
Zu nennen ist ebenso der hl. Bonifatius (um 673-754/5). Als ‚Apostel der Germanen‘ gründete er mehrere deutsche Bistümer (u.a. Mainz) sowie das Benediktinerkloster Fulda. Durch seine Romreisen erhielt Bonifatius, der aus dem Südwesten England stammt und auf den Namen Winfried getauft wurde, hilfreiche Unterstützung durch den Papst. Nach seinem Märtyrertod bei Dokkum in Friesland wurde der hl. Bonifatius zu seiner Lieblingsgründung Fulda feierlich überführt. Auf dem Petersberg in Fulda befindet sich auch das Grab der hl. Lioba. Ihre Mutter war mit dem hl. Bonifatius verwandt. Als angesehene Äbtissin unterstützte die hl. Lioba zusammen mit anderen Familienangehörigen das missionarische Werk des hl. Bonifatius.
Unter vielen anderen großen Gestalten sei noch der hl. Beda der Ehrwürdige (672/673-735) erwähnt. Als angelsächsischer Benediktinermönch widmete sich Beda Venerabilis (lat.) nicht allein der Geschichtsschreibung, er gilt noch heute als einer der bedeutendsten Gelehrten des Frühmittelalters. Mit seinen Schriften deckte er nahezu sämtliche Wissensgebiete der damaligen Zeit ab. Viele seiner Werke galten für lange Zeit als kirchliche Standardwerke, so auch über viele naturwissenschaftliche Themen wie die der Astronomie sowie der Zeitrechnung. Als ein großes Anliegen galt ihm Berechnung des beweglichen Osterfestes zwischen Ost- und Westkirche. Eine faktische Einigung wurde zu seinen Lebzeiten zwar erreicht, doch fehlte die eindeutige und langfristige Umsetzung. In seinen Forschungen wies Beda zudem auf einen gravierenden Kalenderfehler hin, der erst im 16. Jh. von Papst Gregor XIII. durch die Gregorianische Kalenderreform behoben wurde. Neben vielen anderen gehört auch der hl. Beda zu jenen großen heiligen Gestalten, die als geborene Briten das Leben Europas nachhaltig bereicherten und prägten.
„Zart ist der Faden der Freundschaft, doch unzertrennlich wie jene Kette, die Himmel und Meer und die Gestirne umschlingt“. Der Faden der Freundschaft kann zerreißen. Für das Wachsen Europas war Novalis jedoch überzeugt von der Notwendigkeit einer einheitlichen Grundüberzeugung, die in nichts anderem als in der Botschaft des Evangeliums Jesu seine Wurzeln hat. Diese ist unzertrennlich, so unzertrennlich wie eine Kette, die alles fest umgreift.
Wir leben heute in veränderten Zeiten. Viele, die es in ihren Heimatländern wegen Gewalt, Armut und Krankheit nicht mehr aushalten, kommen aus anderen Kulturen und Kontinenten zu uns nach Europa. Als Christen wollen wir uns unserer biblisch-christlichen Wurzeln erinnern und uns den leidgeplagten Menschen nicht verschließen. Während viele sich Gedanken machen über vielfältige Konflikte innerhalb der Europäischen Union, können wir Christen nichts Besseres tun, als mit unserer gemeinsamen Sicht der Dinge eine Ahnung davon aufkommen lassen, wie grenzenlos weit die Botschaft des Evangeliums Jesu tatsächlich reicht. Wer das tut, ist wohltuend engagiert dabei, unserem Kontinent Europa durch gelebte Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität eine prägend biblisch-christliche Seele zu geben.
Pfarrer Wolfgang Guttmann
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