Je t’aime

Liebe Schwestern und Brüder,

noch immer habe ich jene mit Graffiti versehene Hauswand vor Augen, an der zu lesen war: „Je t’aime“ – „Ich liebe Dich“. Wer da wen liebt, bekommt der Vorübergehende in der Regel nicht mit. Wer jedoch für seine Liebesbekundung solche Energien einsetzt, bei dem muss die Sehnsucht der Liebe ganz schön groß sein.

Ich erinnere mich noch an unsere Kinderzeit, wenn wir uns unsere Zählreime aufsagten. Wir Jungs sagten: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, sie liebt mich, sie liebt mich nicht“, und zählten dabei unsere Bekleidungsknöpfe ab oder zupften Blütenblätter. Die Mädchen sagten natürlich: „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht“ – bei welcher Aussage man aufgrund der abgezählten Knöpfe oder gezupfter Blütenblätter schließlich stehen blieb, das sollte dann irgendwie gelten.

Liebesgeschichten. Die Evangelien sind voll von Liebesgeschichten. Auch an diesem Sonntag, 3. Ostersonntag (Lesejahr C), ist so eine Liebesgeschichte im Johannesevangelium (21,1-25) hören. Geheimnisvolle Szene morgens am See Genezareth. Als Auferstandener begegnet Jesus seinen Jüngern. Diese Szene trägt etwas Gespenstisches an sich. Jesus hatte man längst beigesetzt – und nun das. Wenn uns ein längst Begrabener begegnen würde – wir wären sprachlos. Ebenso wagte keiner von den Jüngern den Mund aufzumachen. Hier hinein trifft den Petrus die unvermittelt gestellte Frage Jesu: „Liebst du mich?“ (21,15). Jesus fragt ihn nicht nur einmal, sondern gleich dreimal: „Liebst du mich?“

Was muss sich bei Petrus innerlich getan haben? Jesus fragt, doch er benötigt keine Informationen. Wenn Jesus fragt, dann sollen beim Gesprächspartner Nachdenklichkeit, ja Betroffenheit aufkommen. Diese ist bei Petrus zu spüren. Petrus ist niedergeschlagen. In dieser Gemütsverfassung wird Petrus Jesus gegenüber antworten: „Du weißt alles, Herr, Du weißt auch, dass ich Dich liebe.“

Jetzt ist der Augenblick der Berufung. Dennoch fühlt sich Petrus ertappt. Es ist noch gar nicht so lange her, verleugnete er Jesus. Wie ein Unwürdiger betrachtet er sich. Und dennoch: Jesus hält an ihm fest, Jesus baut auf ihn. Jesus hat Geduld mit ihm, Jesus erbarmt sich seiner.

Inzwischen gibt es viele Nachfolger des hl. Petrus. Papst Franziskus ist einer von ihnen. Dem Heiligen Vater nimmt man ab, dass auch er Jesus gegenüber sagen wird: „Du weiß alles, Herr, du weißt auch, dass ich die Liebe“ (21,17).

Papst Franziskus besitzt den Mut, uns ein Stichwort neu in Erinnerung zu rufen, was längst ausgeblendet zu sein schien: „Barmherzigkeit“. Der Heilige Vater weist darauf hin, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft der Menschen sein kann. Barmherzigkeit, so Papst Franziskus ist eine Ureigenschaft Gottes. Und weil es so ist, deswegen haben wir Barmherzigkeit zu leben.

Papst Franziskus ist in vielen Belangen ein Mutiger. Zum ersten Mal fasst ein Nachfolger des Apostels Petrus den Mut, im Zusammenhang mit einer Bischofssynode die Gläubigen zu fragen, wie es bestellt sei in ihrem Bereich des Zusammenlebens in Ehe und Familie sowie in Partnerschaften. Papst Franziskus weiß, dass es eine Diskrepanz geben kann zwischen ei-nem von der Kirche vorgegebenen Ideal auf der einen und gelebter Wirklichkeit auf der anderen Seite. Mit dem Dokument „Amoris Laetitia“ – „Freude der Liebe“ stellt Papst Franziskus sein nachsynodales Schreiben vor. In den kommenden Wochen werden wir es in Ruhe zu lesen haben.

In „Amoris Laetitia“ geht es natürlich um Liebe, auch um die erotische, um die leidenschaftliche Liebe. Sie gehört zur Fülle des Lebens dazu gehört. Zugleich geht es auch um eine verlässliche und sich verschenkende Liebe, ohne die Liebe nie gelingen kann, wenn sie echt sein will. Bei denjenigen, die diesem Ideal nicht gerecht werden, wird Papst Franziskus in seinem Schreiben an die Barmherzigkeit erinnern. Jesus tut es auch: „Seid barmherzig, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Lk 6,36).

Nicht kirchliche Strukturfragen stehen im Mittelpunkt. Geistliche, mystische Höhen entwickelt das Christentum immer dann, wenn es um die persönliche Liebe zu Christus geht. Wir sind ja bereits angerührt, wenn ein Mensch uns fragt: „Liebst du mich?“ Wie ergriffen hätten wir erst recht zu sein, wenn Gott uns fragt: Liebst Du mich? Es hat viel mit Mystik zu tun. Mystik der Liebe Gottes. Ja, auch Gott sagt uns: „Je t’aime“.

Mag sein, das wir immer noch hin und her überlegen: „Er liebt mich, er liebt mich nicht“. Blicken wir auf Jesus, dann bräuchten wir nicht unsicher zu sein. Diese Sicherheit schenkt uns eine unsägliche geistliche Kraft. Aus dieser Kraft heraus vermögen auch wir zu antworten: „Du weißt alles, Herr, Du weißt auch, dass ich Dich liebe.“

Pfarrer Wolfgang Guttmann