Lesejahr C: 5. Sonntag der Fastenzeit, Brief des Apostels Paulus an die Philipper)
Zu Anfang will ich Ihnen mal eine Geschichte erzählen: „Da war doch der Herr Godard, der Vorstandschef eines Chemiekonzerns, der eines Tages einfach ausstieg und sich einen Weinberg in der Provence kaufte. Kaum nachvollziehbar, wie einer alles aufgibt, was er sich mühsam erkämpft hat: die Position in der Firma, den Dienstwagen, die Jacht an der Adria, die jährlichen Boni, die Entscheidungsvollmacht, die Macht. Oder doch? Wofür das alles, fragt er sich. Was nützt das Geld, wenn man keine Zeit mehr hat, es auszugeben? Was nützt die schönste Urlaubsreise, wenn man sich beziehungsmäßig schon lang nichts mehr zu sagen hat? Das kann nicht alles sein. Wo sind die Kindheitsträume geblieben? Jetzt gilt’s, entschlossen das Ruder herumzureißen!“ (Martin Hoffmann, GPM, 2/2010, Heft 3, S. 336) „Wie war denn ihr Leben als Vorstandschef, Herr Godard?“, fragt der Journalist. Darauf Godard: „Ich sage es mal mit dem Wort des Apostels Paulus aus Philipper 3, Vers 8: Scheiße!“
Am 5. Fastensonntag hören wir genau diesen Brief des Apostels Paulus. Paulus erinnert sich an die Zeit vor seiner Bekehrung, an seine Herkunft, Bildung und Gesetzestreue. Dann aber hat Christus ihn eingeholt, und Paulus beginnt zu verstehen, was vor Gott wirklich gilt. Er lässt sich „ergreifen“ von diesem Gott und von der Macht seiner Liebe lässt er sich prägen. Also wie beim Herrn Godard eine „Vorher – Nachher“ Geschichte?
Wir blicken dabei bereits auf das Ende der Fastenzeit und sehen das Licht der Auferstehung aufleuchten, die ja die zentrale Bedeutung unseres Glaubens ist: Was ist das Ergreifende daran? Wer ist dieser Gott? Würden wir dafür alles stehen und liegen lassen? Was berührt uns an ihm? Was ist unsere „Vorher – Nachher“ Geschichte?
Vorher – nachher. Dieses Schema prägt unsere Vorstellungen. Es gibt so eine Sehnsucht nach Veränderung. Die berühmten Vorher-Nachher-Bilder zeigen das: Aus dick wird schlank. Aus einem farblosen Aschenputtel eine Modepuppe. Aus einer mutlosen Glatze ein selbstbewusstes Transplantat.
Diese Bilder stehen für die kleinen, äußerlichen Sehnsüchte. An ihnen kann sich ganz viel festmachen: Selbstbewusstsein, Zuversicht, Zufriedenheit. Im Kleinen scheint machbar, was im Großen nur den wenigen Glücklichen wie dem Manager Godard vorbehalten scheint: neu anzufangen; hinter sich zu lassen, was unzufrieden macht.
Von einem radikalen Neuanfang in seinem Leben schreibt also Paulus.
Auf den ersten Blick hat dieser Text etwas Befremdliches. Etwas geradezu Beängstigendes. Denn er erinnert mich an die Radikalität muslimischer Selbstmordattentäter.
Für sein früheres Leben hat Paulus nur Verachtung übrig. Was ihm früher als Gewinn erschien, sieht er jetzt als Schaden an. Er wird richtig drastisch: Mein bisheriges Leben halte ich für Scheiße, schreibt er. Unsere Übersetzung nimmt ein wenig die Härte: Ich erachte es für Dreck/Unrat.
Das Neue, das an die Stelle des alten Drecks tritt, ist nun aber nicht die Fülle des Hochgenusses. Sondern er will dem Tod Christi gleich gestaltet werden. Absterben will er. Um schließlich den himmlischen Siegespreis zu erhalten. Könnte so nicht auch ein Selbstmordattentäter reden? Ein Märtyrer des IS?
Haben die Kritiker der Religionen also doch Recht? Steckt in allen Religionen der Keim eines gefährlichen Fanatismus? Liefert auch das Neue Testament die Vorbilder für eine lebensverachtende Todessehnsucht? Lehrt Paulus, das Bestehende zu verachten, zu verneinen, um es den höheren Zielen der frommen Fanatiker zu opfern? Wir müssen jedenfalls ganz genau hingucken!
Dazu ist es hilfreich, Paulus mit denen zu vergleichen, die sich nach einer Veränderung sehnen. Die nach dem Motto „vorher – nachher“ ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen wollen. Und vielleicht gehören wir ja alle ein bisschen zu diesen Menschen.
Der Ausgangspunkt dieser Sehnsucht nach Veränderung ist, dass wir mit etwas unzufrieden sind.
- Ich fühle mich unsportlich und dick. Dabei möchte ich doch so gerne attraktiv sein.
- Niemand kennt mich, niemand interessiert sich für mich. Dabei weiß ich doch, dass in mir ein ganz großes Talent steckt.
- Niemand will mich anstellen, dabei träume ich doch von einem guten Einkommen, um eine Familie gründen zu können.
Wer solche unerfüllten Sehnsüchte hat, der lässt sich entweder hängen. Der gibt sich auf und macht einfach so vor sich hin. Oder er startet einen Anlauf, um etwas zu verändern. Er oder sie meldet sich bei den Weight Watchers an. Geht zum Stylisten. Lässt sich Botox in die Lippen spritzen oder mit Silikon die Brüste aufmöbeln. Fängt an, Lotto zu spielen. Bewirbt sich bei einer Castingshow. Oder wird Mitglied im Fitness-Studio. Ab morgen wird alles anders.
Wer auf diese Weise einen Neuanfang versucht, hat meistens keine neuen Ideale. Sondern er oder sie trägt ihre alten Werte mit sich herum. Oft sind sie übernommen: von den Mitschülern, den Konkurrentinnen, den Modemagazinen. Es sind die alten Ideale, die einen immer schon krank gemacht haben. Weil man immer schon an ihnen gescheitert ist: Attraktivität, Vermögen, Intelligenz.
Und auch wenn der Neuanfang erst einmal erfolgreich war: Meistens scheitert er wie jedes Mal nach einigen Wochen. Dann tritt der berühmte Jojo-Effekt ein, und hinterher ist es schlimmer als vorher.
Bei Paulus ist eine Voraussetzung grundsätzlich anders: Er war nicht unzufrieden mit seinem bisherigen Leben. Er stand eigentlich voll im Saft und war auf seine Weise überaus erfolgreich. Er war gebildet: Hervorragend ausgebildet durch namhafte Lehrer. Er war berühmt. Andere sagten: berüchtigt. Aber man sprach von ihm. Und beruflich war er erfolgreich: Er erhielt bedeutende Aufträge.
Alles lief also gut. Es gab für ihn keinen Grund, sich nach Veränderung zu sehnen. Und dann hatte er plötzlich sein Damaskus-Erlebnis. Es traf ihn wie der Blitz und warf ihn vom Pferd. Anschließend fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Plötzlich war ihm klar geworden, was wirklich zählte im Leben. Und gemessen daran schien ihm alles Frühere plötzlich wertlos.
Nicht, dass er es früher schlecht gefunden hätte. Früher hielt er es für Gewinn. Er hatte sich auch nicht nach dem gesehnt, was er nun wichtig fand. Jetzt glaubte er plötzlich an Jesus Christus. Früher hatte er ihn verfolgt. Die Veränderung erfüllte keine Sehnsucht in ihm. Sondern Jesus wurde ihm erst dann wichtig, als er in eine Beziehung zu ihm getreten war. Sein altes Leben wurde ihm erst im Rückblick wertlos.
Das ist ein entscheidender Unterschied zu den Dschihadisten und Selbstmordattentätern von heute. Nach allem, was man liest, sind das häufig junge Leute, die früh gescheitert sind. Junge Männer ohne Schulabschluss. Ohne berufliche Perspektive. Oft in den Ghettos der europäischen Städte aufgewachsen. Nicht anerkannt von der alteingesessenen Bevölkerung.
In ihnen bohrt die Sehnsucht nach einem Neuanfang. Der Wunsch nach Erfolg und Berühmtheit. Unerfüllte sexuelle Bedürfnisse oder die Sehnsucht, selber mal das Oberhaupt einer Familie zu werden, das bestimmen kann, wo es lang geht.
Ich behaupte: Für viele von diesen Jugendlichen ist der Kampfeinsatz in Syrien eine Spielart des ewigen „vorher – nachher“.
- Vorher perspektivlos – nachher ein Held.
- Vorher ein Niemand – nachher einer, von dem man spricht.
- Vorher voller brodelnder Aggressionen – nachher einer, der weiß, wie es ist: zuzuschlagen und abzudrücken.
Diese jungen Männer versuchen es nicht mehr bloß mit Waschbrettbauch und angesagten Basecaps. Sie haben begriffen, dass sie grundsätzlicher werden müssen. Aber sie bleiben im ewig gleichen Schema: Sie versuchen, den eigenen Frust dadurch zu überwinden, dass sie etwas tun wollen, womit sie groß rauskommen. Sie haben sich einreden lassen, dass ihnen das als Kämpfer und Märtyrer gelingen wird.
Der christliche Glaube ist etwas völlig anderes. Und das können wir auch an Paulus lernen. Auch an diesem anstößigen Text aus dem Philipper-Brief, der mich auf den ersten Blick an die verirrten Dschihadisten erinnert hatte.
Der christliche Glaube bietet keine Wunscherfüllung. Er ist kein Rezept, um reich, schön und berühmt zu werden. Mit ihm kann man nicht die Erfolge erlangen, nach denen man sich immer schon gesehnt hat. Und auch keine 72 Jungfrauen im Paradies.
Sondern der Glaube stellt die Sehnsüchte auf den Kopf. Was vorher unverzichtbar erschien, wird plötzlich relativ. Markenklamotten, volle Busen und eine Garage für 10 Autos: Ich halte es für Scheiße, um mit Paulus zu sprechen: Weil etwas anderes für mich wichtig geworden ist. Mir kann die Werbeindustrie noch so sehr einreden, was angeblich unverzichtbar sei: Das ist für mich gestorben. Mein Glaube sagt mir, dass andere Dinge zählen.
Von Christus kann ich lernen, was wirklich zählt: Für andere da zu sein. Zu den Menschen zu gehen, die ausgegrenzt sind. Liebevoll auf die zu gucken, für die es nie ein „vorher – nachher“ geben wird. Weil sie aufgrund ihrer Krankheiten oder ihrer Behinderungen keine Chance auf eine grundsätzliche Veränderung haben. Kurz gesagt: Von Christus können wir lernen, fürsorglich auf andere zu blicken. Anstatt immer nur unseren eigenen verpassten Chancen hinterher zu trauern.
Ist das jetzt ein neuer, unerfüllbarer Zwang? Müssen wir statt perfekter Modepuppen nun perfekte Christen sein? Nein! Wir dürfen uns mit all unseren Grenzen auf den Weg machen. So, wie Paulus selber sagt: Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.
Das gibt Gelassenheit.
Und den Auftrag sich auf den richtigen Weg zu machen. Amen.
Dr. Christoph Balbach, Quickborn
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