Liebe Schwestern und Brüder,
das Erntedankfest, welches in diesen Tagen in vielen Teilen unseres Landes begangen wird, gehört zu den ältesten Festen der Menschheit. Längst vor dem Aufkommen des Christentums gab es Festveranstaltungen zum Ende der jährlichen Erntezeit. Die Freude über das gelingende Einbringen der Ernte war stets kulturübergreifend. Mit dem Erntedankfest stehen wir Christen in einer Reihe mit vielen allen anderen Religionen, Kulturen und Völkern dieser Welt.
In einem Kurzfilm, so erinnere ich mich, wurden während einer Szene die Betrachter daran erinnert, dass die Natur in ihrer Vielfalt ganz gut ohne den Menschen auskommt. Die Natur braucht den Menschen nicht. Wiederum aber braucht der Mensch die Natur. Diese Erinnerung ist deswegen wichtig, da im Laufe der Jahrtausende sich das Bewusstsein des zivilisierten Menschen gegenüber der Natur beträchtlich verändert hat. Es findet eine Verschiebung statt. Der Mensch ist im Begriff, sich der Natur gegenüberzustellen, mehr noch: er läuft Gefahr, sich mehr und mehr über die Natur zu stellen, sie zu beherrschen. Das an die Menschen gerichtete biblische Wort: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch“ (Gen 1, 28), zeigt nicht zuletzt in unserer Gegenwart fatale Auswirkungen.
Umweltschützer weisen gern darauf hin, dass früher der Mensch weitaus mehr in der Einheit mit der Natur lebte. Er war Teil von ihr, lebte mit ihr, in ihr und von ihr. Wie ein Embryo fühlte er sich im Mutterschoß der Natur geborgen. Entsprechend wurde dieser Mutter des Alls eine angemessene göttliche Verehrung entgegengebracht. Spuren dieses Denkens sind noch vorhanden, wenn wir beispielsweise noch heute liebevoll von der „Mutter Erde“ sprechen.
Als der Mensch durch intensive Züchtung der Tierwelt und der Pflanzenwelt mehr und mehr in die Natur eingriff, geschah ein Umbruch im Bewusstsein des Menschen. Dieser Eingriff in die Natur war nicht nur ein Gewinn für den Menschen, sondern er beunruhigte ihn auch. Viehzucht und Ackerbau waren ja wie ein Eingriff in die eigentlich unberührbare „Mutter Erde“. Daher begann der Mensch, sich zu entschuldigen. Noch heute gibt es Kulturen, die bei der „Mutter Erde“ um Vergebung dafür bitten, ihren Boden angekratzt und Leben vernichtet zu haben. Der Mensch hatte sich so über die „Mutter Erde“ erhoben und einen Machtanspruch ihr gegenüber geltend gemacht.
Damit der sensible Mensch wieder inneren Frieden findet, kam er auf die Idee, die Gottheit zu besänftigen. Er nahm etwas vom Ertrag des Bodens oder ein Geschöpf aus der Tierwelt und schenkte es freiwillig opfernd der Gottheit, also der „Mutter des Lebens“, zurück. Der Urgedanke des Erntedankfestes war somit entstanden. Es erwuchs daraus eine Liturgie mit Prozession, Gesang und Gebet. Im Vollzug dieses Festes fühlten sich die Menschen nun entsühnt, ja versöhnt. Das Erntedankfest war so etwas wie eine Versöhnung mit der Gottheit des Lebens. Wesentlich hat sich bis heute daran nichts geändert. Das Erntedankfest bleibt im menschlichen Leben tief verwurzelt. Zudem hat das Fest viel mit Gott und mit der Fülle des Lebens zu tun. Um dieses Motiv zu betonen, darf das Wort „Dank“ in der Feier des Erntedankfestes auch nie fehlen.
Die alten Israeliten feierten gleich zweimal Erntedank. Da ist zunächst das Fest der Darbringung der Erstlingsgaben (Num 18,12). Mit dem Reifen der ersten Früchte wurde es im Frühjahr begangen. Bei uns etwa vergleichbar mit der Erdbeeren- und Kirschenernte. Schließlich feierten die Israeliten das Laubhüttenfest. Nach endgültigem Abschluss der Ernte fand dieses Fest im Herbst statt, dann allerdings auch mit mehrtägiger Dauer: „Feiert dieses Fest zur Ehre des Herrn jährlich sieben Tage lang vor dem Herrn, eurem Gott, fröhlich! Das gelte bei euch als feste Regel von Generation zu Generation“ (23,41), heißt es im Buch Levitikus.
Erntedankfeste werden normalerweise auch bei uns fröhlich begangen. Die Feierlichkeiten werden jedoch nicht selten verbunden mit nachdenklich machenden Fragen. Dazu gehören beispielsweise Fragen von Angebot und Nachfrage und der damit verbundenen Überproduktion von Lebensmitteln. Dazu gehört auch die Sorge, dass Dinge in den Lebensmitteln drin sind, die da gar nicht hineingehören. Dazu gehört auch die Sorge um gentechnisch veränderte Lebensmittel. Zudem belastet uns die zum Himmel schreiende Sorge hinsichtlich der ungleichen Verteilung von Nahrungsmitteln auf dieser Welt.
In unserem Tischgebet, welches übrigens als ein kleines Erntedankfest verstanden werden kann, könnte diese Sorge um die Ungleichheit der Güterverteilung ins Wort gebracht werden:
Gütiger Gott,
Dein Sohn Jesus sagt uns:
„Selig die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit,
denn sie werden satt werden“ (Mt 5,6).
Wir danken für die Gaben Deiner Schöpfung,
die fleißige Hände für uns zubereitet haben.
Lass uns jedoch nie so satt werden,
dass wir nicht mehr Ausschau halten
nach Deiner Gerechtigkeit
und nach Deinem Frieden.
Darum bitten wir durch ihn, Christus, unseren Herrn.
Amen.
Pfarrer Wolfgang Guttmann