Liebe Schwestern und Brüder,
wenn jemand stirbt, sind wir betroffen und traurig. Wenn jemand freiwillig aus dem Leben scheidet, fragen wir in unserer Bestürzung zudem nach den Hintergründen. Letztlich dreht es sich um die Frage „Warum?“.
Beweggründe, freiwillig das Leben zu beenden, gibt es unendlich viele. Zurückbleibende sind erleichtert, wenn sie offenbar selber nicht Anlass zum Freitod eines ihnen Nahestehenden sind. Der evangelische Theologe Jochen Klepper (1903-42), der mit zu den bekanntesten Kirchenlieddichtern des 20. Jahrhunderts zählt, trug das Kreuz seines persönlichen tragischen Schicksals, so lange er konnte. Dann gab es einen dunklen Punkt in seinem Leben, wo er nur noch im Glanz des göttlichen Lichtes eine Zukunft sah. Jochen Klepper schied freiwillig aus diesem Leben. Sein Beweggrund: die Liebe. Mit seiner Lebensgeschichte und mit den Texten seiner Lieder hat Jochen Klepper noch heute der Nachwelt viel zu sagen.
In unserem katholischen Gotteslob sind sechs Lieder von Jochen Klepper enthalten. Dazu gehören: „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“ (GL 220) als Adventslied, „Du Kind, zu dieser heilgen Zeit gedenken wir auch an dein Leid“ (GL 254) als Weihnachtslied und „Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen“ (GL 257) zur Jahreswende.
Ebenso sind von dem im oberschlesischen Beuthen geborenen Pfarrerssohn in unserem Gotteslob wiedergegeben: „Ich liege, Herr, in deiner Hut und schlafe ganz mit Frieden“ (GL 099) als Abendlied, „Nun sich das Herz von allem löste, was es an Glück und Gut umschließt“ (GL 509) als Lied bei Tod und Vollendung. Als ein Gesang großen Gottvertrauens ist bekannt sein Lied „Gott wohnt in einem Lichte, dem keiner nahen kann“ (GL 429).
Die Lebensgeschichte von Jochen Klepper war schon von Anfang an schwer zu tragen. Schwermut durchzieht Teile seines Lebens. Der in Erlangen und Breslau studierte evangelische Theologe verzichtete wegen seines anfälligen Gesundheitszustandes auf eine Pfarrertätigkeit. Umso mehr brachte er seine geistigen Kräfte ein im vielfältigen Pressewesen der evangelischen Kirche.
Mit 28 Jahren heiratet er eine jüdische Rechtsanwaltswitwe. In die Ehe bringt sie zwei Töchter mit. Die etwa 13 Jahre ältere Ehefrau Johanna unterstützt den Theologen in seiner Betätigung als freien Schriftsteller. Jochen Klepper erhält eine Anstellung beim Berliner Rundfunk und präsentiert ein anspruchsvolles Rundfunkprogramm. Zugleich betätigt er sich als gern gelesener Romanschriftsteller und Dichter.
Die Familie zieht nach Berlin. Das Familienleben hätte sich fröhlich fortsetzen können, wenn nicht 1933 die Machtübernahme der Nationalsozialisten stattgefunden hätte und damit eine Gleichschaltung des Rundfunks erfolgt wäre. Da die Ehefrau Johanna sowie ihre beiden Töchter Jüdinnen waren, geriet die Familie zunehmend unter Druck. Schon sehr bald wurde Jochen Klepper aus dem Rundfunkbetrieb entlassen. In der wachsenden Judenfeindlichkeit sah der Mann des Glaubens einen Frevel an Gott. Er verfolgte das Zeitgeschehen mit großer Sorge und zugleich auch den Weg der evangelischen Kirche zwischen Anpassung auf der einen und Bekennender Kirche, also Widerstand leistender Kirche, auf der anderen Seite.
Mit dem Tod seines Vaters schreibt er im Verborgenen an seinem Roman „Der Vater“. Darin entwirft er das Bild eines Königs, der in allem nach Gott fragt und sich als „ersten Diener im Staat“ begreift. So entsteht ein wohltuendes Gegenbild zum Führerkult des Nationalsozialismus. Der Roman erschien im Februar 1937 im Buchhandel und erfährt großen Zuspruch. Als Autor dieses Buches erhält Jochen Klepper jedoch kurz darauf Berufsverbot. Überlegungen, das Land zu verlassen, kommen bei ihm auf. Entschließen dazu kann er sich jedoch nicht.
Jochen Klepper bleibt in Berlin, er mag diese Stadt und die Leute. Johanna, seine standesamtlich angetraute Frau, konvertiert und lässt sich taufen. Das Ehepaar Klepper wird kirchlich getraut. Jochen Klepper wird zum Militär eingezogen, muss an die Front, wird aber wegen seiner „nichtarischen Ehe“, wie es damals hieß, aus der Wehrmacht als „wehrunwürdig“ entlassen.
Nachdem die ältere Stieftochter noch kurz vor Kriegsausbruch über Schweden nach England ausreisen konnte, scheitert jedoch die Ausreise der jüngeren Tochter. Eine Deportation steht unmittelbar bevor. Überdies geht Jochen Klepper davon aus, dass Mischehen zwangsweise geschieden werden und damit auch die Deportation seiner Frau droht.
Hin und her gerissen zwischen Aufbegehren gegen das Unrecht, verbunden mit der Angst um seine Frau und seinem Stiefkind, bleibt er in Berlin. Die Zeit verrinnt, bis es zu spät ist. Im Dezember 1942 sieht er für sich und die seine Familie keinen Ausweg mehr in dieser dunklen menschenverachtenden Zeit. Alles ist aus, da ist kein Licht in dunkler Nacht, jedenfalls nicht in dieser Welt. In schweren Stunden sucht er Halt in seinem christlichen Glauben. Als letzte Eintragung steht in seinem Tagebuch: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – wir sterben heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“
Trost durch Glauben in einer trostlosen Welt. In aller seelischen Verzweiflung weiß sich Jochen Klepper getragen von Gottes Treue. In ihm sieht er die Dunkelheit Lebens erhellt. Die Sprache seiner Lieder gibt das wieder. „Nacht, Angst, Schuld, Dunkel, Leid, Gericht, Elend, Bitterkeit, Last“ sind ständige Stichworte seiner Texte. Wer diese Gedanken liest bzw. singt, bekommt eine Ahnung davon, wie jemand mit den beklemmenden Widerfahrnissen des Lebens ringt und nach einem Ausweg aus der Krise Ausschau hält. Genau das vollzieht Jochen Klepper auf überzeugende Weise.
Die Frage nach dem „Warum?“ wird immer ein Geheimnis des Lebens bleiben. Doch zusammen mit der tragischen Lebensgeschichte Jochen Kleppers findet dieses Geheimnis ein Stück Erhellung. Für viele Menschen hat dieser lebenshungrige Mann christlichen Glaubens tatsächlich noch heute viel zu sagen.
Zu Ihrer persönliche Lektüre und Betrachtung füge ich bei sein Lied zur Jahreswende: „Der du die Zeit in Händen hast“ (GL 257).
1. Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.
2. Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.
3. Wer ist hier, der vor dir besteht?
Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht:
Nur du allein wirst bleiben.
Nur Gottes Jahr währt für und für,
drum kehre jeden Tag zu dir,
weil wir im Winde treiben.
4. Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.
5. Und diese Gaben, Herr, allein
lass Wert und Maß der Tage sein,
die wir in Schuld verbringen.
Nach ihnen sei die Zeit gezählt;
was wir versäumt, was wir verfehlt,
darf nicht mehr vor dich dringen.
6. Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.
Pfarrer Wolfgang Guttmann