Liebe Schwestern und Brüder,
mit Papst Franziskus erfährt das Wort „Barmherzigkeit“ eine neue Aktualität. Barmherzigkeit galt als verstaubt und altbacken. Manche wollten Barmherzigkeit durch Soziale Gerechtigkeit ersetzen. Schließlich wird mit Barmherzigkeit eine herablassende, erniedrigende Einstellung verbunden, die Gefahr läuft, ungerechte Zustände zu zementieren. Nun kommt Papst Franziskus und stellt die Barmherzigkeit als entscheidenden Begriff seines Denkens und Handelns dar.
Soziale Gerechtigkeit berücksichtigt Papst Franziskus natürlich auch, jedoch bleibt er dabei nicht stehen. Auf die Frage eines Journalisten beispielsweise, ob man Katholiken, die geschieden sind und wieder geheiratet haben, nicht doch zu den Sakramenten zulassen könne, antwortet Papst Franziskus: „Die Barmherzigkeit ist größer als jener Fall, den Sie vorstellen. Ich glaube, dass dies die Zeit der Barmherzigkeit ist.“
Mit seinem Verständnis von Barmherzigkeit macht sich Papst Franziskus natürlich angreifbar. Viele können und wollen ein mit derartigen Idealen besetztes Denken und Handeln so nicht nachvollziehen. Aber ihm, dem Papst, ist, wie er in diesem Zusammenhang sagt, „eine zerbeulte Kirche lieber, als ein ‚Haus voll Glorie schauet‘.”
Das Werben des Papstes für die Botschaft des Evangeliums Jesu gilt nach außen wie nach innen. Der Papst weiß, dass ein Epochenwechsel stattzufinden habe und dass in der Vergangenheit viele Verwundete zurückgeblieben sind. „Die Kirche ist Mutter“, sagt Papst Franziskus, „sie muss hingehen und die Verwundeten pflegen, und das mit Barmherzigkeit.“
Natürlich sollen Prinzipien nicht in Frage gestellt werden, Menschen brauchen sie. Und Recht soll auch Recht bleiben. Aber Barmherzigkeit reicht weiter, geht darüber hinaus. Barmherzigkeit verzichtet allemal auf einen eigenen Rechtsanspruch.
Die Barmherzigkeit tut es nicht, um klein beizugeben – das wäre Schwäche. Barmherzigkeit ist nicht Schwäche, Barmherzigkeit ist vielmehr Kraft. Barmherzigkeit ist jene Kraft, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie kann von Herzen sagen: „Es ist alles wieder gut.“ Es ist eine Kraft, die Leben schenkt und Menschen zu neuem Leben ermutigt.
Wenn es ein geheimnisvolles Bild für göttliche Barmherzigkeit gibt, dann ist es die österliche Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Thomas (Joh 20,19-31). Der Apostel kommt mit den Wunden des Auferstandenen in Berührung. Wer die Wunden eines anderen sieht, denkt auch an seine eigene Verwundbarkeit. Die Wunden des anderen könnten auch die eigenen sein. Und wer seine eigenen Verwundungen verdrängt, geißelt mit seiner eigenen Unversöhnlichkeit auch die anderen. Wer sich selbst jedoch als Verwundeten bekennt, bei dem kann sich ein Wandel vollziehen hin zur Barmherzigkeit.
Papst Franziskus gab an einem Sonntag während des Angelus-Gebetes den Betenden auf dem Petersplatz eine kleine geistliche Übung mit auf den Weg. Übernehmen wir sie als unsere eigene persönliche Übung. Der Papst sagte: „Jeder denke an einen Menschen, mit dem er sich nicht gut steht, auf den er zornig ist, den er einfach nicht mag. Denken wir an jenen Menschen und beten in diesem Augenblick in Stille für ihn und werden barmherzig gegenüber diesem Menschen.“
Noch heute begegne ich vielen beichtenden Christen, die beten: „O mein Jesus Barmherzigkeit.“ Erbitten wir nicht nur Barmherzigkeit für uns, sondern geben wir diese an andere weiter, so wie Papst Franziskus.
Pfarrer Wolfgang Guttmann