Liebe Schwestern und Brüder,
„Wir sind das Volk“ – diese mutigen und selbstbewussten Rufe der Bürger in der ehemaligen DDR unmittelbar vor dem Fall der Berliner Mauer werden wir nicht vergessen. Mit dem diesjährigen 09. November staunen wir noch 25 Jahre danach, wie ein gravierender epochaler Wandel innerhalb unseres Landes so unblutig verlaufen konnte.
Nicht wenige bringen diesen gewaltlosen Umbruch in Verbindung mit den vielen Friedensgebeten in ostdeutschen Kirchen. Die berühmten Leipziger Montagsdemonstrationen beispielsweise hatten ihren Ursprung in einer Friedensbewegung, die sich regelmäßig um den ev.-luth. Pastor Christoph Wonneberger (*1944) zu Friedensgebeten trafen. Vom Geist des Friedens erfüllt gingen die Demonstranten anschließend auf die Straße. Darüber hinaus war es der aus Polen stammende Karol Wojtyla, der als Papst Johannes Paul II. (1978-2005) durch seine vielen Reisen in den Ostblock sowie durch seine die Freiheit des Menschen einfornden Predigten den sowjetischen Machthabern die Stirn bot. Ohne die Kirchen mit ihrer Botschaft der Freiheit und ohne den Geist des Gebetes wären die wie durch ein Wunder erfolgten Veränderungen in unserem Land undenkbar.
Weite Teile des Abendlandes finden sich nun in einem geeinten Europa wieder. Als vor gut zweihundert Jahren Friedrich von Hardenberg (1772-1801), besser bekannt unter dem Namen Novalis, seinen romantischen Traum von einem geeinten Europa träumte, war ihm eine Voraussetzung ganz wichtig: die Vereinigung der christlichen Kirchen. Die Erfüllung der Sehnsucht, in Frieden zusammen zu leben, war, wie dieser bedeutende Philosoph und Schriftsteller glaubte, nur möglich, wenn eine allen gemeinsame Ansicht vom richtigen Leben beseelte.
„Wir sind das Volk“ – diesen selbstbewussten Ruf möchte man allen Christen, gleich aus welchen Konfessionen sie kommen, wünschen. Wir Christen haben uns nicht wegzuducken. Ebenso brauchen wir im Geist Jesu keine Fronten aufrecht zu erhalten. Die Sehnsucht zur Ökumene, der Gedanke der Einheit unter den Christen, muss gerade auch in unserem Land, was das Ursprungsland neuzeitlicher Kirchenspaltung ist, zunehmen und wachsen.
„Wir sind das Volk“. Wir Christen hätten zu ergänzen: „Wir sind das Volk Gottes“. Wenn uns das bewusst wird, dann brechen im Glauben an den einen Gott sowieso alle Grenzen und Mauern in sich zusammen.
Pfarrer Wolfgang Guttmann