Glauben ohne Kirche?

Titelbild Eröffnungsgottesdienst Katholikentag 2022

Geht es Ihnen auch so: Im Familien- und Bekanntenkreis werde ich oft gefragt, warum ich der katholischen Kirche noch angehöre. Einer Kirche, die Frauen die Gleichberechtigung verweigert, die durch ihre restriktive Sexualmoral viele Menschen verletzt und ausschließt und oft da fehlt, wo sie wirklich gebraucht würde; einer Kirche mit vielen Skandalen, hierarchisch aufgestellt, geleitet nur von Geweihten.

Ich werde gefragt, ob ich mich durch mein Bleiben nicht mitschuldig mache an Machtmissbrauch und Unterdrückung. Die Fragenden meinen, ich könne doch auch ohne Kirche meinen Glauben leben. Ich habe mich tatsächlich gefragt, warum ich noch bleibe. Bleibe ich nur, weil die Kirche mein ganzes Leben geprägt hat, ich unfähig oder nicht mutig genug bin, um einen Schlussstrich zu ziehen? Ich weiß: wenn ich gehen würde, würde ich ein wichtiges Stück “Heimat“ verlieren, Zugehörigkeit und Gestaltungsmöglichkeiten in der Gemeinde.

Beim Katholikentag, den ich Ende Mai besucht habe, war das Thema „Gehen oder Bleiben“ sehr präsent und wurde auf mehreren Veranstaltungen diskutiert. Dabei wurde für mich klarer, warum ich persönlich bleiben will. Viele Gründe gibt es für meine Entscheidung. Einige will ich hier nennen.

Glauben ohne Gemeinde? Vielfach habe ich beobachtet, dass bei Menschen, die meinen, ohne Gemeinschaft mit anderen Glaubenden ihren Glauben leben zu können, der Glaube schnell an Bedeutung für ihr Leben verlor. Zumindest scheint es mir so.

Ich selbst erlebe das Zusammenleben in der Gemeinde und der Kirche oft als schwierig aber auch als große Chance: Wo sonst treffe ich Menschen verschiedener Generationen und Berufe, kultureller Hintergründe, unterschiedlicher Lebenserfahrungen, und Glaubensweisen? Sie alle eint der Glaube oder zumindest die Suche nach dem einen Gott. Beim Katholikentag wurde diese Vielfalt deutlich, und mir zeigte sich auch aufs Neue, wie sehr sich Menschen aus der katholischen Kirche in vielen Bereichen weltweit einsetzen. So engagiert sich z.B. Misereor bei Projekten, die helfen, den Klimawandel zu verlangsamen und die Folgen abzumildern. Und Caritas international engagiert sich für Flüchtlinge weltweit, auch in vielen muslimischen Ländern wie Afghanistan, Syrien, Ägypten. Diese weltweite, allumfassende katholische Kirche sehe ich als große Chance für die notwendigen Veränderungen in der Welt. In unserer Gemeinde in Wedel wird diese Weltkirche in vielen Gottesdiensten besonders deutlich. Es berührt mich, wenn ich sehe und erlebe, aus wie vielen Nationen die Menschen kommen: Sehr verschieden und doch vereint. Was mir allerdings oft fehlt in der Gemeinde, ist der Austausch über unseren Glauben, über unsere Lebenserfahrungen und auch über unsere Zweifel.

Glauben ohne Kirche? Wie soll der Glaube weitergegeben werden ohne Verkündigung, ohne Religionsunterricht, ohne religiöse Erziehung in unseren Kitas? Wer soll Menschen begleiten bei schwerer Krankheit, Tod und Verlust?

Wer soll die Frage nach Gott, die Menschen in allen Kulturen schon immer gestellt haben, auch heute noch wach halten?

Wer soll sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen und darauf dringen, dass Menschen nicht ausgebeutet werden, wenn nicht besonders wir Christen, die in jedem Menschen Gottes geliebtes Kind sehen?

Wer soll unser „kulturelles Gedächtnis“ bewahren für die jahrtausendealten Texte der Bibel, für die Musik, Kunst, Literatur und Architektur, die Judentum und Christentum geprägt haben?

Deshalb bleibe ich in der katholischen Kirche, trotz allem, was ich nicht mehr akzeptieren und nur schwer ertragen kann. Ich will zusammen mit anderen der Stachel im Fleisch sein. Ich werde, wo es mir möglich ist, die notwendigen Veränderungen einfordern. Ich möchte, dass unsere Kirche Heimat für viele ist: Für die Frommen und Gefestigten, für die Zweifelnden und Suchenden, für die Zupackenden und Nachdenklichen, für Menschen jeden Alters und jeder Nation; eine wirklich katholische Kirche, denn „katholisch“ heißt „umfassend“.

Dann, darauf hoffe und vertraue ich, wird der Geist Gottes in unserer Kirche wehen- der Geist, der alles neu macht.

Doris Sander; Kommentare gern an doris.sander@pfarreihlmartin.de