Heilung

Stellen Sie sich vor, dass Sie weder reden noch hören könnten. Das ist keine gute Vorstellung. Ich bin gewiss, dass wir alle – in einem übertragenen Sinne – schon einmal Erfahrungen des Taubstummseins gemacht haben:

Taub sein:

  • Wir hören nur das, was wir hören wollen. Kritik, nein, die betrifft mich nicht.
  • Keine Zeit zum Zuhören zu haben, weil wir zu beschäftigt sind – mit „wichtigeren Dingen“.
  • Taub sein für das Wort Gottes, weil es vielleicht unbequem oder zu anspruchsvoll ist.

Stumm sein:

  • Wir sind sprachlos ob der schlimmen Zustände in dieser Welt.
  • Wir schauen weg und sagen nichts, wenn anderen Unrecht geschieht.
  • Stumm, weil wir uns allein gelassen fühlen.
  • Stumm vor Angst oder Trauer oder
  • stumm, weil uns jemand mundtot gemacht hat.

Taubheit und Sprachlosigkeit können wir selbst erleben, und andere durch uns. Da bedürfen wir der Heilung.

Wie vollzieht sich diese Heilung des Taubstummen, von der das heutige Evangelium berichtet?

Es sind zwei Aspekte: Zunächst brachten die Menschen den Taubstummen zu Jesus und baten ihn, er möge ihn berühren. Jesus entspricht ihrer Bitte. Er legt dem Taubstummen die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel. In diesem Bild des Berührens kommt die Nähe Gottes zu den Menschen zum Ausdruck. Gott ist kein ferner Gott, sondern er ist ein Gott, der uns Menschen ganz nah kommt. Gott kommt uns in Jesus ganz nah; er hat keine Berührungsängste. Die Nähe Gottes tut gut. Im eucharistischen Brot, das wir empfangen dürfen, kommt Gott uns auch ganz nah. Und wir alle haben bestimmt auch die heilende Nähe durch einen anderen Mitmenschen schon einmal erfahren. Wie gut kann eine Umarmung tun, wenn wir traurig sind oder uns fürchten, wenn wir uns alleine fühlen oder verzweifelt sind.

Dann, so heißt es im Evangelium weiter, blickte Jesus zum Himmel und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Die Ohren des Taubstummen öffneten sich und der Taubstumme konnte richtig reden. Im Wort Gottes steckt Leben. Was könnte das bedeuten? Dort, wo ein Wort ausgesprochen wird, braucht es ein Gegenüber, der das Wort wahrnimmt und etwas erwidert. Es entsteht ein Dialog, ein Gespräch. Gott spricht zu uns und will mit uns in Beziehung treten. Auch in unserem täglichen Leben merken wir, wie wichtig Wort und Dialog sind. Ohne Gespräch verkümmert der Mensch. Wenn Menschen aneinander vorbeischweigen, steht es schlecht. Wir alle kennen die lebendig machende Kraft des Wortes:

  • Jemand ist niedergeschlagen und erfährt ein tröstendes Wort, das ihn aufrichtet.
  • Eine Sportmannschaft liegt zurück und wird angefeuert. Beim Fußball spricht man vom zwölften Mann, dem Publikum, das der Mannschaft mit seinen anfeuernden Worten und Gesängen Flügel verleihen kann.
  • Worte können auch zum Nachdenken anregen und unser Handeln beeinflussen und verändern
  • Auch das Wort Gottes, das Evangelium, die frohe Botschaft, steckt voller lebendig machender Kraft; verheißt diese Botschaft doch das Ewige Leben. „Das Leben erneuert sich, es ist stark und es ist schön.“ So endete die Osterpredigt in diesem Jahr.

Die Heilung des Taubstummen vollzieht sich somit in einer Hinwendung zum Menschen; durch Berührung und Zuspruch, durch Tat und durch Wort. Diese Hinwendung zum Menschen durch Berührung und Wort kommt beispielsweise auch im Sakrament der Krankensalbung zum Ausdruck, wenn der Priester einerseits seine Hände auf den Kopf des Kranken legt und dabei ein Gebet spricht.

Zum Schluss meiner Gedanken möchte ich noch auf den Weg eingehen, der beschrieben wird:  Jesus, so heißt es, verließ das Gebiet von Tyrus und kam über Sidon an den See von Galiläa mitten in das Gebiet der Dekapolis. Ich habe mir diesen Weg einmal auf einer Karte angesehen. Jesus ist einen ziemlich großen Umweg gegangen, um an das Ziel zu gelangen. Das Wort Gottes geht vielleicht manchmal verschlungene Wege; aber es erreicht sein Ziel, es will bei uns ankommen. Das Ziel, von dem im Evangelium die Rede ist, ist das Gebiet der Dekapolis. Hierbei handelt es sich um ein Gebiet von zehn Städten. Und wie der Klang bereits vermuten lässt, handelte es sich um griechische Gebiete. In diesen Gebieten lebten zur Zeit Jesu ganz überwiegend keine Juden, sondern Heiden. Das heißt, das Wort Gottes wird durch Jesus auch dahin getragen, wo die Menschen das Wort Gottes nicht kennen oder nicht von ihm überzeugt sind. Das könnte auch ein Auftrag an uns sein: das Wort Gottes dahin zu tragen, wo es die Menschen bedürfen. Papst Franziskus ruft uns dazu auf, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, dahin, wo kranke und arme Menschen unserer Zuwendung durch Tat und Wort bedürfen.

Ich wünsche uns allen, dass wir in Situationen, in denen wir taubstumm sind oder auf andere Weise der Heilung bedürfen, dass wir in diesen Situationen Heilung erfahren: durch die Zu- und Hinwendung unserer Mitmenschen oder durch die heilende Kraft des Wortes, des Wortes Gottes oder eines anderen Menschen. Und ich wünsche uns die Kraft, dass wir dort, wo wir andere Menschen sehen, die der Hilfe bedürfen, ihnen diese heilende Zuwendung durch Wort und Tat spenden können.

(Björn Mönkehaus)