„Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat.“

„Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat.“

Ich war ein wenig überrascht, als kürzlich einer unserer Freunde, der sich selbst als bekennenden Atheisten bezeichnet, im Gespräch dieses Bibelzitat formulierte.

Worum ging es ihm?

Unser Freund schreibt seit einiger Zeit mehr oder weniger regelmäßig Kolumnen für eine Tageszeitung. Darin entwickelt er – oft spöttisch oder bissig – seine Meinung zu aktuellen Fragen des Alltags und zum politischen Geschehen. Die Resonanz auf seine Artikel ist groß. Er erhält viel Zustimmung aus der Leserschaft, aber auch immer wieder teils scharf ablehnende Kritik. Das kennt er also, dass ihm nicht immer alle zujubeln. Er nimmt es locker.

Wir, das heißt mein Mann und ich, sind schon viele Jahre lang mit ihm befreundet, haben schon viele, oft heiße Diskussionen mit ihm geführt, auch über seine Kolumnen, weil wir trotz der Freundschaft durchaus nicht immer einer Meinung waren, vor allem nicht, was Religion, Glauben und Kirche betrifft. Das ist nichts Neues, wir kennen uns und unsere Grundeinstellungen.

Und jetzt dieser Satz: „Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat.“

Das Thema der Diskussion, in der er geäußert wurde, ist eigentlich nebensächlich, es hatte auch keinen biblischen Hintergrund. Ich glaube, unser Freund war betroffen von unserer Reaktion, vielleicht sogar verletzt.

Nach der ersten Verblüffung als Zuhörer, dass ein solches Bibelzitat wie selbstverständlich auch von einem Nicht-Gläubigen verwendet wird, wird einem klar, dass es wie so viele andere Bibelzitate als Sprichwort, als Redensart in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen worden ist. Heute im Evangelium steht dieser Satz als ursprüngliche, direkte Aussage Jesu.

„Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat.“
Da ist Jesus etwas passiert, das ihn offenbar tief getroffen hat. Und das in seiner Heimat, in seiner vertrauten Umgebung, bei den Verwandten und den anderen Menschen, die ihn seit seiner Jugend kennen oder zu kennen glauben,

Ich stelle mir die Szene so vor: Seit dem Beginn seiner Lehrtätigkeit hat Jesus bereits Anhänger, seine Jünger nämlich, gefunden, er hat die Zustimmung vieler Menschen erfahren, er hat ganze Menschenmengen mobilisiert, hat Kranke geheilt, ist den Pharisäern zum Ärger geworden und muss sich sogar gelegentlich schon zurückziehen, um Ruhe zu finden. Und nun kommt er in seine Heimatstadt Nazareth. Es steht nicht im Text, aber ich könnte mir vorstellen, dass er sich freut, mal wieder zu Hause zu sein und gerade dort in der Synagoge seine neue, frohe Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden, die woanders bereits so positiv aufgenommen wurde. So, wie Markus es erzählt, läuft zunächst auch alles nach Plan: die Leute hören ihm zu und wundern sich über seine Weisheit, seine Kenntnisse, seine rhetorischen Fähigkeiten. Das hätten sie ihm nicht zugetraut, er ist doch gar nichts Besonderes, er ist doch einer der Ihren! Sie kennen ihn und seine Familie doch von klein auf!
Aber da scheint plötzlich die Stimmung umzuschlagen. Was bildet der sich ein, meinen sie, der Sohn des Zimmermanns, den alle kennen? Er wagt es, sich über seine Verwandten und über seine Nachbarn zu erheben und Ansichten zu vertreten, die zum Widerspruch herausfordern. Er hält sich offenbar für etwas Besseres. Diese Arroganz kann man ihm nicht durchgehen lassen.

„Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat.“
Jesus ist enttäuscht und mutlos. Er zieht die Konsequenz und verlässt seine Heimatstadt, ohne seine neue Lehre dort fortzusetzen. Er wirkt wie gelähmt, kann nur wenige Kranke heilen und zieht weiter.

Ich kann mir so richtig vorstellen, wie tief getroffen Jesus von der Reaktion der Menschen in seiner Heimat war, gerade von denen, die er offensichtlich besonders gern erreichen wollte.

Ich kann mir ebenso richtig gut vorstellen, warum dieser Satz vom Propheten, der in seiner Heimat wenig Ansehen genießt, Eingang in unseren täglichen Sprachgebrauch gefunden hat.

Viele, viele Menschen haben sicher schon einmal Ähnliches erfahren. Sie haben vielleicht ihre nächsten Angehörigen, Freunde oder Bekannte beeindrucken wollen mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten und sind auf Abwehr oder Gleichgültigkeit gestoßen. Sie haben vielleicht Ideen gehabt, zu deren Umsetzung sie Hilfe gebraucht hätten, die sie nicht bekommen haben. Sie haben vielleicht unkonventionelle Meinungen entwickelt, über die nachzudenken sich gelohnt hätte.

Es ist normal, nicht immer Erfolg zu haben, wenn man etwas anpackt. Es geht einem aber unter die Haut, wenn man kein offenes Ohr, keine Resonanz gerade bei denen findet, die einem etwas bedeuten und die einen kennen.

Ich stelle mir die Frage: Kennt man die, die man zu kennen glaubt, wirklich, und will man sie auch wirklich kennen? Die Verwandten Jesu und die übrigen Einwohner von Nazareth, die Jesus von klein auf kannten, haben sie sich nicht nur eingebildet, Jesus zu kennen? Die Bibel gibt wenige Einzelheiten aus Jesu früherem Leben vor Beginn der Lehrtätigkeit her, aber einige Ereignisse sind doch bekannt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der junge Jesus nicht schon früher aufgefallen ist durch Klugheit und besondere Kenntnisse der Schrift. Ich glaube eher, dass man es nicht wahrhaben wollte, dass er sich abhob von seiner Umgebung, dass man ihn eher als Unruhestifter empfand. Aus dem Evangelium ist kein Hinweis zu entnehmen, dass man versuchte, ihn zu verstehen.

Und wie ist es mit unserem Freund, der sich als unverstandener Prophet fühlte? Ich denke immer noch darüber nach. Mit dem Bibelzitat hat er, meine ich, zweierlei deutlich gemacht: Es ist ihm offenbar näher gegangen, als wir uns vorstellen konnten, dass er gerade bei uns nicht die erwünschte Resonanz gefunden hat, es scheint ihm wichtig gewesen zu sein. Vielleicht war er wie Jesus in Nazareth enttäuscht, weil er sich anderes erwartet hatte.

Und wir? Wir haben offenbar nicht bedacht, dass es ihm nicht nur ums Diskutieren verschiedener Meinungen ging, sondern auch ganz emotional, von Menschen anerkannt zu werden, die ihm nahe stehen.

Wir kennen ihn doch, sollte man meinen, aber kennen wir ihn wirklich gut genug?

(Sabine Heckmann)