Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt in Hamburg eine Ausstellung wo es nichts zu sehen gibt. „Dialog im Dunkeln“ heißt sie. Die Ausstellungsräume sind völlig abgedunkelt. Das Besondere: blinde Frauen und Männer begleiten in kleinen Gruppen Besucher durch die Ausstellung. Eine künstlich geschaffene Welt völliger Dunkelheit. Tatsächlich: es gibt nichts zu sehen.
Dafür erschließen sich andere Erlebnisräume: unterschiedliche Düfte, wechselnde Temperaturen, Windströme, Geräusche. Für einen, der gesunde Augen hat, ist „Dialog im Dunkeln“ wie das Eintreten in eine andere Welt. Viele Blinde bzw. Sehbeeinträchtigte leben in dieser Welt. In einem dialogischen Geschehen sollen die vermeintlich Sehenden eine Ahnung von dieser anderen Welt bekommen.
Und wer einmal, so wie ich, eine Führung mitmachen konnte, gewinnt ein ganz neues Empfinden für seine Sinne. Normalerweise verlassen wir uns auf unsere Augen und meinen, die Welt damit zu erschließen. Aber das ist nur ein Teilbereich. Mindestens ebenso wichtig sind auch die anderen Sinne.
Beim „Dialog im Dunkeln“ werden auch Speisen und Getränke gereicht: „Dinner in the dark“ – „Essen im Dunkeln“. Unter diesen Umständen mit anderen am Tisch sitzen, natürlich mit Geschirr und Besteck, das verändert die Atmosphäre, die Gespräche, die Beziehungen. Im Dunkeln tastet man sich voran.
Wenn das Auge kein Licht wahrnimmt, kommt es umso mehr auf den Tastsinn an. Jemand warf die rhetorische Frage auf, wie weit der Lebensraum eines Blinden wohl reiche? Die Antwort eines Blinden: „Unser unmittelbarer Lebensraum reicht so weit, wie unsere Fingerspitzen reichen.“
Beim Betrachten des heutigen Evangeliums vom Ungläubigen Thomas (Joh 20,19-31) erinnerte ich mich an meinen Besuch dieser faszinierenden Ausstellung. Es kam mir der Gedanke auf, ob nicht der Apostel Thomas bei der Begegnung mit Jesus eine ähnliche Erfahrung gemacht hat? Wie oft sind wir gegenüber den eigentlichen Geheimnissen der Welt blind? Wir schauen mit unseren Augen, nehmen aber längst nicht alles wahr. Bei den vielen blinden Flecken unseres Lebensalltages hätten wir auch andere Sinne einzusetzen, so auch den Tastsinn.
Ob der Apostel Thomas es stellvertretend für uns alle tut? Wie ein Blinder die Punktschrift feinfühlend abtastet, so tastet Thomas für uns die Botschaft ab: der HERR lebt!
Der erste Sinn, so sagt uns die Forschung, ist der Tastsinn, und das bereits im Mutterleib. Auch das Neugeborene spürt über den Tastsinn die Nähe zur Mutter, erobert über den Tastsinn seiner Haut seine kleine Umwelt.
Viel häufiger als uns bewusst wird, verwenden wir auch als Erwachsene unseren Tastsinn. Die Qualität eines Stoffes prüfen wir nicht allein mit den Augen, auch mit den Fingerspitzen. Zwei Menschen, die sich liebhaben, kommen ohne Fingerspitzengefühl nicht aus. Es gibt kein Spiel zwischen Mutter und Kind, zwischen Liebenden, ohne dieses Fingerspitzengefühl der Zärtlichkeit, des Tastsinns.
Seine sensiblen Fingerspitzen darf Thomas einsetzen, um den Leib des Auferstandenen zu tasten: „Wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (Joh 20,25), wird Thomas zweifelnd äußern. Thomas ist Skeptiker. Er möchte seine Fragen durch handfestes Experimentieren lösen. Als Jesus vor ihm steht, geschieht etwas, das unter die Haut geht: Jesus holt den Skeptiker Thomas aus der kritischen Distanz heraus und führt ihn hautnah an sich heran.
Wenn Glaube etwas mit Liebe zu tun hat, dann kann Glaube nicht aus sicherer Entfernung gelebt werden. Liebender Glaube heißt: Aufgeben der Distanz, zumindest für eine gewisse Zeit. Wir dürfen diese biblische Erfahrung auf die Praxis unserer persönlichen Glaubensfrömmigkeit übertragen. Während der hl. Messe berühren wir den Leib Christi – mit unseren Fingerspitzen. Wie ist es da, in diesem heiligen Augenblick, mit unserem Fingerspitzengefühl bestellt?
Zudem schließen nicht wenige ihre Augen, nachdem sie den Leib Christi empfangen haben. Ist das ein Dialog im Dunkeln oder erstrahlt im Innern nicht vielmehr ein göttlicher Glanz? Ob Blindheit vielleicht doch mehr sehend macht?
Von der Begrenztheit irdischen Schauens weiß der hl. Thomas von Aquin (1225-74), In einem Gebet bringt er beim Empfang der hl. Eucharistie einen tiefen sehnsuchtsvollen Gedanken ein: „Ich komme wie ein Kranker zum Arzt des Lebens, wie ein Unreiner zur Quelle des Erbarmens, wie ein Blinder zum Licht der ewigen Klarheit.“
Hier auf Erden sind unsere Augen gehalten. Wie Blinde leben wir tatsächlich stückweit wie im Dunkeln. Einmal aber werden wir Christus im Licht göttlichen Glanzes schauen dürfen, so wie er ist (vgl. 1. Joh 3,2).
Bis dahin wollen wir hl. Eucharistie feiern und den Leib Christi empfangen. Unsere kleine Sinneswelt möge dabei wach sein, einschließlich unseres Fingerspitzengefühls. Im geheimnisvollen Dialog mit dem Auferstandenen darf jeder, wie der Apostel Thomas, beim Berühren des heiligen Leibes Christi in seinem Herzen bekennen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28).
(Pfarrer Wolfgang Guttmann)
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