Der Sündenbock

Liebe Schwestern und Brüder,

der Blick in unserer Quickborner Kirche fällt auf das große Mittelfenster in der Apsis. Im schmalen Fensterband entdeckt der Betrachter im unteren Bereich vier u-förmige Gebilde. In der Sprache des Künstlers stellen sie den Menschen dar mit seinen Mangelerscheinungen und Defiziten. In der Mitte darüber der Gekreuzigte als der Erlöser. Das Fenstermotiv will die Gläubigen ermuntern, als sündhafte Menschen sich nach dem auszurichten, von dem Heil und Erlösung zu erwarten ist.

Mit dem Wort „Sünde“ bzw. „Sünder“ gehen wir heute geschützter um als zu früheren Zeiten. Dennoch kommt das Wort Sünder in unserem täglichen Vokabular regelmäßig vor. Dabei gehören Verkehrssünder oder Umweltsünder gewiss zu den gängigsten Begriffen.

Es gibt Leute, die finden es chic, zu den Bösewichten zu gehören. Sie entdecken darin ihr Markenzeichen, ihre Identität. Ihnen ist es egal ist, wie sie auf andere wirken und was sie ihnen antun. Wiederum gibt es jene, denen ihr eigenes Fehlverhalten nahe geht, bei denen sich irgendwie das Gewissen rührt und sie feststellen: so kann es nicht weitergehen.

In den Religionen gibt es Tage und Jahreszeiten, die viel mit Buße und Umkehr zu tun haben. Im Christentum gehören dazu die Adventszeit und die Fastenzeit. Im Judentum ist es der „Jom Kippur“, der „Tag der Versöhnung“, höchster jüdischer Feiertag überhaupt. An diesem Tag sollen sich die Menschen mit Gott versöhnen, die gestörte Harmonie zwischen Gott und Mensch soll wieder hergestellt werden.

Zum „Tag der Versöhnung“ wurde früher vom Jerusalemer Tempel aus unter dem Gejohle der Beteiligten ein Opfertier als Sündenbock in die Wüste gejagt. Zuvor hatte ihm der Hohepriester in einem zeichenhaften Ritus die Sünden des Volkes auferlegt. Mit dem Sündenbock sollten die Sünden der Menschen weit fortgetragen werden.

Der Sündenbock wird für das Vergehen anderer verantwortlich gemacht. Dabei hat er nichts Schlimmes getan. Der Sündenbock muss aber dafür herhalten, die Sünden anderer zu tragen. Auch wenn dieser Ritus schon lange nicht mehr praktiziert wird, so bleibt der Gedanke der Stellvertretung lebendig. Vielleicht können wir langsam verstehen, was mit dem Hinweis des Johannes im Evangelium (Joh 1,29) gemeint ist: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“

Sündenböcke hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben, sie gibt es bis heute. Jemand muss herhalten für andere, auch wenn er nicht der Schuldige ist. Es gibt dann mutige Leute, die freiwillig die Rolle des Sündenbocks übernehmen. Wenn wir jährlich am 27. Januar, dieses Jahr nun zum 72. Mal, an die Befreiung des Konzentrationslager Ausschwitz denken, dann kommt der hl. Maximilian Kolbe in den Sinn. Als ein Gefangener aus dem Konzentrationslager entfloh, sollten andere Häftlinge dafür büßen und sterben. Stellvertretend für einen für die Exekution vorgesehenen Familienvater ging der Franziskanerpater Maximilian Kolbe freiwillig in den Todesbunker – sozusagen als Sündenbock.

Wer so etwas tut, vollzieht es im Geist dessen, der gekommen ist, alle Schuld auf sich zu laden. Johannes weist auf den hin, der wirklich nichts gemacht hat, dem wirklich nichts nachzusagen ist und der der Heilige schlechthin ist – auf Jesus: „Seht das Lamm Gottes, es nimmt hinweg die Sünde der Welt.“

Es gibt für Gottes Handeln gegenüber den Menschen ein konkretes Motiv: es ist das Motiv der Liebe gegenüber den Sündern. „Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9,13), hören wir Jesus sagen.

In der Christentumsgeschichte gibt es ein schönes aber auch schwer einzuhaltendes Wort. Es stammt vom hl. Augustinus (354-430). Dieser große Kirchenlehrer wird sagen: „Wir müssen lernen, die Sünde zu verachten; aber wir müssen auch lernen, den Sünder zu lieben.“ Den Sünder zu lieben bedeutet nicht, alles durchgehen zu lassen. Es bedeutet aber auch nicht, ihn als hoffnungslosen Fall abzustempeln.

Es hat in der Tat viele Frauen und Männer gegeben, die diesen Leitsatz bis hin zur Schmerzgrenze gelebt haben. Zeichenhaft weist unser Altarfenster darauf hin. Sündige Menschen sollen sich als Erlösungsbedürftige ausrichten hin auf den Erlöser. Er ist für uns zum Sündenbock geworden. Als Gekreuzigter breitet er seine Arme aus und umfängt alle, die sich als Sünder ihm anvertrauen.

Diese Nähe zu Jesus vollziehen wir während jeder hl. Messe. Uns tut es gut, wen wir vor dem Empfang der hl. Kommunion die Worte Johannes des Täufers vernehmen: „Seht das Lamm Gott, es nimmt hinweg die Sünde der Welt.“

Pfarrer Wolfgang Guttmann