So pass doch auf!

wdwLiebe Schwestern und Brüder,

„So pass doch auf!“ Wer ist nicht so oder ähnlich schon einmal gemaßregelt worden, wenn man beispielsweise den Kantstein übersieht oder blindlinks über die Straße läuft. Das kann schlimm ausgehen. Wenn einem gesagt wird „So pass doch auf!“ dann liegt es nicht weit von der Ermahnung „Seid wachsam“. Es ist ein Appell an unsere Unaufmerksamkeit. Oft sind wir nicht bei der Sache.

Mit seiner Aufforderung „Seid also wachsam“ (Mt 24,42) will Jesus allerdings noch einen großen Schritt weiter gehen. Der Sohn Gottes mahnt unsere Wachsamkeit an für den Augenblick seiner Wiederkunft (Mt 24,29-44). Er will uns nicht müde vorfinden, nicht träge. In der Zeit nach der Himmelfahrt Jesu gab es unter den Christen tatsächlich die Vorstellung, die Wiederkunft Jesu Christi stünde unmittelbar bevor. Manche gingen schon gar nicht mehr ihrem Tagewerk nach. Sie dachten, das lohne sich nicht mehr: „Der Herr ist nahe“ (Phil 4,5), sagten sie.

Verschiedene religiöse Sekten versuchen noch heute ein Datum vorzugeben, wann mit der Wiederkunft Christi zu rechnen sei. Aber wenn nicht einmal die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern nur der himmlische Vater jenen Tag und jene Stunde der Wiederkunft kennen (vgl. Mt 24,36), wie wollen dann religiöse Fanatiker von diesem Zeitpunkt wissen?

Wiederum: seit der Himmelfahrt Jesu sind zweitausend Jahre vergangen. Auch dem Wachsamsten fallen irgendwann einmal die Augen zu. Obwohl man, weiß, dass man hier auf der Erde nur ein Gast ist, beginnt man sich auf der Erde einzurichten und tut so, als wenn es keine Bedrohung gäbe. Diese Haltung wird unterstützt durch Informationen jener klugen Leute, die in den Weltraum gucken. Sie sagen uns, das Weltall rechnet sich in Milliarden von Jahren. Also, es wird noch Milliarden von Jahren dauern, bis die Sonne sich verfinstert, die Sterne vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels erschüttert werden. Eine solche Zeitansage steigert nicht unbedingt die Wachsamkeit hinsichtlich der Ereignisse der letzten Dinge.

Andere trauen den Milliarden von Jahren nicht, sie meinen, dass der Untergang der Welt viel eher einträfe. Dazu gehört nicht allein ein Atomkrieg oder Umweltverschmutzung. Es gibt auch Leute, die davor warnen, die selbst geschaffene, die künstliche Intelligenz, könne das Ende der menschlichen Spezies auslösen. Die vom Menschen geschaffenen elektronischen Geräte bzw. Computer könnten eines Tages klüger sein als ihre Macher. Die elektronischen Geister, die die Menschen riefen, könnten einmal zur Bedrohung der Menschheit werden, so ihre Befürchtung.

„Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand“ (Mt 24,36), heißt es im Evangelium. Worauf sollte sich also unsere Wachsamkeit richten? Vielleicht machen wir uns bewusst, dass heute oder morgen auf jeden von uns so etwas wie eine Weltuntergangsstimmung zukommen kann. Was machen wir, wenn wir einen schweren Schicksalsschlag erleiden? Was machen wir, wenn jemand, der uns ganz nahe steht und uns ganz viel bedeutet, mit einem nicht mehr so in unserer sichtbaren Nähe ist. Was machen wir, wenn uns selber einmal gesagt wird: Du bist unheilbar krank; dein Leben dauert nur noch wenige Monate, wenn nicht sogar Wochen. Was machen wir dann?

Die Worte Jesu „Seid also wachsam“ bedeuten immer auch, im Glauben an die Wiederkunft Christi die Nähe zum Gott des Lebens aufrecht zu erhalten. Einmal wird jeden einzelnen seine persönliche Apokalypse treffen. In unserem christlichen Glauben brauchen wir diesen Augenblick nicht zu verdrängen, wir brauchen nicht voller Unbehagen entgegenzusehen. Denn als Glaubende wir wissen ja, wer da kommt. Wir wissen auch, wie er ist. Der am Ende der Zeiten Wiederkommende wird nicht anders sein, als wir ihn in Erinnerung haben, solange er hier auf Erden lebte: als der gute Hirt, als der Freund des Lebens, als der sich Erbarmende, als derjenige, der zu uns spricht: „Selig seid ihr“ (Mt 5,11; Joh 13,17).

Wenn das Wort Jesu „Seid also wachsam“ einen Sinn haben soll, dann kann der Anlass zur Wachsamkeit nicht erst in ferner Zukunft liegen. Es will hier und jetzt gelten, in dieser Gegenwart. Auch in diesem Augenblick dürfen wir die Stimme Gottes vernehmen: „Ich bin da!“ (Ex 3,14) – mitten in eurer Gegenwart, auch und gerade in der Feier der hl. Eucharistie. Aus der Heiligen Schrift hören wir sein Wort göttlicher Nähe: „Ich bin da“. In der hl. Eucharistie empfangen wir sein Brot des Lebens: „Ich bin da!“. Wir sind ein Tempel des Heiligen Geistes: „Ich bin da!“.

Es sind Glaubensgeheimnisse, die wir in jeder hl. Messe bekunden: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Gegen jede Untergangsstimmung und gegen jede Lebenskrise möge unser Glaube an das Kommen und ebenso an die Gegenwart Gottes in Jesus Christus neue geistliche Nahrung bekommen.

„So pass doch auf!“ ist eine Ermahnung, die wir uns heute genauso sagen lassen müssen. Beim Stolpern über einen Kantstein kann es ganz schön wehtun. Christus im Blick zu haben, tut dagegen überhaupt nicht weh. Im Gegenteil, diese Blickrichtung kann einem jedem von uns nur gut tun.

Pfarrer Wolfgang Guttmann