Maria – die Schwester meines Glaubens

Liebe Schwestern und Brüder,

der Monat Oktober ist Rosenkranzmonat. Für nicht wenige ist diese Feststellung selbstverständlich, anderen kommt es neu in Erinnerung, manche werden jedoch davon noch nie gehört haben. Auch wenn einem Kind zur Feier der Erstkommunion als Geschenk ein Rosenkranz zugedacht wird, sagt dies nichts aus über die Praxis dieses Gebetes. Beten können ohne Bibel oder Gebetbuch zur Hand nehmen zu müssen, ist ein großer Vorteil des Rosenkranzgebets. Selbst wer diese Gebetsschnur mal nicht bei sich führt, kann die Finger der eigenen Hand zur Hilfe nehmen.

Das Rosenkranzgebet ist das Betrachten des göttlichen Geheimnisses der Menschwerdung Gottes. Mit Hilfe der Begleitmelodie des Ave Maria werden verschiedene Stationen aus dem Leben Jesu betrachtet. Zugleich wird darüber meditiert, was die Geheimnisse der Menschwerdung Gottes für das eigene Leben bedeuten. Dass bei der Betrachtung der göttlichen Geheimnisse auch die Mutter Jesu Berücksichtigung findet, versteht sich von selbst.

Der Anlass für den Rosenkranzmonat war ein eigentlich verheerender und liegt bereits 445 Jahre zurück. Genau am 07. Oktober 1571 errangen die christlichen Mittelmeermächte im Golf von Patras, auf der Höhe von Lepanto (griech. Nafpaktos), einen überraschenden Sieg über die Galeeren des Osmanischen Reiches. Nachdem die Osmanen zuvor Zypern eroberten, entschlossen sich christlichen Mächte, die zahlenmäßig weit unterlegen waren, zu einer direkten Konfrontation. Papst Pius V. (1566-72) führte den unerwarteten Sieg auf das Wirken der Gottesmutter sowie das Rosenkranzgebet zurück und veranlasste, künftig den 07. Oktober als Rosenkranzfest zu begehen. Papst Leo XIII. (1878-1903), ein echter Freund des Rosenkranzgebetes, führte diesen Gedanken fort und nahm dieses Fest zum Anlass, im ganzen Monat Oktober die Gläubigen zum täglichen Rosenkranzgebet aufzurufen. Der Rosenkranzmonat Oktober war somit geboren.

Das Rosenkranzgebet dient dazu, dem christlichen Glauben bestärkende geistliche Nahrung zu geben, um in den Herausforderungen des Lebens bestehen zu können. Heute leben viele Menschen unter uns, die andere Glaubensvorstellungen haben. Viele sind zu uns gekommen, um hier in Europa Arbeit zu finden und ein neues Leben zu beginnen. Andere hielten es vor Existenzangst und Gewalt im eigenen Land nicht aus. Dass auch Maria, die Mutter Jesu, in ihrer Schwangerschaft einer wirklichen Lebensbedrohung ausgesetzt war, erzählt nachvollziehbar der italienische Schriftsteller Carlo Carretto (1910-88). Er weiß, wovon er spricht, da er sich selbst lange Zeit in der algerischen Wüste aufhielt und mit Menschen einer anderen Kultur zusammen lebte. Seine Erfahrungen in der algerischen Wüste lassen auch uns eine neue Nähe zu Maria, der Mutter Jesu, finden:

Mein Neuanfang meiner Beziehung zu Maria hatte einen dramatischen Anlass. Es war während meines langen Aufenthaltes in der algerischen Wüste. Ich lebte in einer kleinen religiösen Gemeinschaft. In kurzer Zeit lernte ich die einheimischen Tuareg kennen, ein Berbervolk mit vielen Bräuchen und Traditionen. Schnell hatte ich mich mit ihnen angefreundet. Ich ließ es mir nicht entgehen, nach der Arbeit den Abend mit ihnen zu verbringen. Bei einer solchen Gelegenheit erfuhr ich etwas Merkwürdiges.

Es war mir zu Ohren gekommen, dass ein Mädchen des Lagers einem jungen Mann aus einem anderen Lager versprochen war, dass sie aber noch nicht zu ihrem Bräutigam ziehen durfte, weil sie noch zu jung war. Unwillkürlich brachte ich damals diese Mitteilung mit der Stelle im Evangelium zusammen, wo es heißt, dass die Jungfrau mit Josef verlobt sei, dass sie aber noch nicht miteinander lebten.

Als ich zwei Jahre danach wieder in dieses Lager kam, fragte ich unvermittelt, ob die Heirat inzwischen stattgefunden habe. Mein Gesprächspartner schien peinlich berührt, und es folgte ein betretenes Schweigen. Auch ich schwieg. Doch als ich an diesem Abend aus einem Gesteinsbecken Wasser holte, sah ich dort einen der Knechte des Gastgebers, und da konnte ich meiner Neugierde nicht widerstehen; ich wollte den Grund des verlegenen Schweigens erfahren, mit dem der Chef des Lagers meine Frage abgewiesen hatte.

Der Knecht schaute sich vorsichtig um, doch da er großes Vertrauen zu mir hatte, machte er ein Zeichen, das ich allzu gut verstand: er fuhr mit der Hand an die Kehle und führte jene Bewegung aus, mit der die Araber sagen wollen: „Es wurde ihr die Kehle durchgeschnitten.“

Und warum? Noch vor der Hochzeit entdeckte man, dass sie schwanger war, und die Ehre der Familie forderte dieses Opfer. Mich überlief ein Schauer bei dem Gedanken an das Mädchen, das getötet wurde, weil sie schwanger war.

Beim Abendgebet las ich die Stelle im Evangelium über die Empfängnis Jesu in Maria noch einmal nach. Ich hatte eine Kerze angezündet, weil es dunkel war.

Ich erinnere mich, wie wenn es heute wäre. Ich fühlte Maria ganz nahe bei mir im Sand kauern, klein schwach, hilflos in ihrer so wunderbaren und doch so unverkennbar wirklichen Schwangerschaft.

Ich löschte die Kerze. In dieser dunklen Nacht sah ich keine Sterne. Ich sah vielmehr in meinen Gedanken viele gierige Augen glitzern wie die Augen der Schakale, wenn sie es auf die Lämmer abgesehen haben.

Es waren die Augen all der Bewohner von Nazareth, die das Mädchen belauerten, das ein Kind im Schoß trug, und es mit der ganzen Wucht des Argwohns, zu dem Menschen nun mal fähig sind, ausfragten: „Wie bist du zu dem Kind gekommen, du unanständiges Ding?“

Was für eine Nacht! Was hätte Maria antworten sollen? Dass Gott der Vater dieses Kleinen sei? Wer würde ihr das glauben? Am besten sie sagt nichts. Gott weiß, Gott sorgt . . .

Arme holde Maria, kleine mädchenhafte Mutter: du fängst deinen Weg schlimm an! Wie willst du mit so vielen Feinden fertig werden? Wer wird dir glauben?

An jenem Abend fühlte ich zum ersten Mal, dass ich dem Geheimnis Marias näher kam. Jetzt verstand ich, warum ihre Verwandte Elisabeth, zu der Maria nach jenen Geschehnissen ging, und sicher hat sie sich gern den neugierig starrenden Glitzeraugen ihrer Umgebung entzogen, ausrief: „Selig bist du, weil du geglaubt hast.“ Ja, wahrhaft selig.

Maria, es braucht Mut, an das zu glauben, was du uns sagst und bezeugt, dass dieser Sohn nicht die Frucht eines nächtlichen Abenteuers ist. Selig bist du, weil du geglaubt hast.

An jenem Abend beschloss ich, Maria zur Lehrerin des Glaubens zu erwählen. Ich hatte einen lebendigen Kontakt zu ihr bekommen. Sie war nicht mehr eine unbewegliche Figur in der Statur einer Herrscherin, sondern sie war die Schwester meines Herzens, die Reisegefährtin meines Lebens, die Lehrerin meines Glaubens, ja meines Glaubens.

Können wir verstehen, weshalb Menschen, in welcher Lebenssituation sie auch sind, sich an Maria erinnern? Das Leben Marias hatte viele Widerstände auszuhalten. Deshalb könnte jeder von uns in der Stille seines Herzens Maria vieles zutragen. Es ist wirklich nicht leicht zu glauben, was Gott alles in unserem Leben bewirkt, wie er uns in den Dienst nimmt und was Gott noch alles mit uns vorhat.

Wenn wir einen Rosenkranz bei uns tragen, nehmen wir ihn einfach bei der Hand. Und auch wenn wir ihn gegenwärtig nicht dabeihaben, sprechen wir aus der Stille unseres Herzens einfach: „Gegrüßet seist Du, Maria“. Ich grüße Dich, Maria, Du Schwester meines Glaubens.

Carlo Carretto

Pfarrer Wolfgang Guttmann