Liebe Schwestern und Brüder,
wieviel Religion braucht der Mensch?, könnten wir fragen hinsichtlich des biblischen Abschnittes der Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Joh 2,13-25). Handel, so wie er in der Welt üblich ist, duldet Jesus nicht im Gotteshaus. Temperamentvoll geht er mit den Händlern um. Zu erklären ist Jesu Verhalten nur mit einer tiefen Liebe zu seinem himmlischen Vater. Diese Liebe ist leidenschaftlich. Der Tempel ist für ihn ein Gotteshaus. Da passt nichts Weltliches hinein.
Umgekehrt dürften wir fragen: Wieviel Gott gehört in die Welt? Kann man beides überhaupt radikal trennen? Nicht wenige sagen: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, so wie Politik und Glaube unterschiedliche Welten sind. Und doch gibt es Überschneidungen beispielsweise dann, wenn im Parlament eine neue Regierung vereidigt wird. Viele achten darauf, ob jemand zu seiner Vereidigungsformel anfügt: „So wahr mir Gott helfe!“ Dieser kleine Satz macht ganz viel aus. Viele Menschen brauchen Religion auch in der Öffentlichkeit.
Unterschiedliche Nähen und Distanzen von Göttlichem und Weltlichem, von Kirche und Staat, gibt es überall. In den westlich orientierten Ländern ist eine Trennung von Kirche und Staat ein allgemein akzeptiertes Modell. Nicht einmal der Papst würde eine frühere Einheit zwischen Altar und Thron wiederhergestellt sehen wollen. Und dennoch achten Menschen darauf, dass wenigstens in Teilbereichen sich das Religiöse im Staatlichen bzw. Gesellschaftlichen niederschlägt.
Nicht ohne Grund nahmen daher die Väter und Mütter des Deutschen Grundgesetzes das Stichwort „Gott“ in die Präambel auf. Auch wenn es schon eine Trennung von Kirche und Staat gibt, ganz ohne „Gott“ jedoch will auch der Staat nicht auskommen. So heißt es im Deutschen Grundgesetz: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
Im Europäischen Parlament dagegen konnte man sich leider auf einen ausdrücklichen Gottesbezug nicht einigen. Erwähnt ist nur das „kulturelle, religiöse und humanistische“ Erbe Europas.
In Schleswig-Holstein debattierte schließlich im Herbst letzten Jahres der Schleswig-Holsteinische Landtag darüber, ob, so wie im Deutschen Grundgesetz, Gott in die Landesverfassung aufgenommen werden soll. Leider gab es auch hier keine Mehrheit für einen Gottesbezug. Nun regt sich eine unterstützungswerte Volksinitiative, sammelt Unterschriften, damit im Kieler Parlament über eine Aufnahme des Gottesbezuges in die Landesverfassung erneut abgestimmt werden kann.
Wie viel Religion braucht der Mensch? Fragen wir Jesus, so würde er einerseits eine Trennung von Kirche und Staat befürworten. Jesus wird sagen: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) und „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“ (Mt 22,21).
Andererseits würde Jesus sagen: Bedenke Mensch, du bist religiös. Gott hat seine eigene Nähe zu Dir, Gott will es, dass du lebst. „Gott schuf den Menschen als Mann und als Frau“ (Gen 1,17), heißt es in der Bibel. Zu dieser Großfamilie Gottes gehört jeder Mensch.
Diese Einsicht ist bereits Religion. Der Christ nimmt Gott in seine Lebenswelt hinein und stellt ihn auf geheimnisvolle Weise dar. Der Apostel Paulus erinnert: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Verherrlicht also Gott in eurem Leib.“ (1 Kor 6,19) Der Mensch ist also mehr als ein Staatsträger, der Mensch ist mehr als die Summe des Wirtschaftens.
Wieviel Religion braucht der Mensch? Die Antwort ist für uns Christen klar: Jeder von uns ist ein Tempel des Heiligen Geistes. Kann man dem Menschen eine größere Würde zusprechen? Man möchte sich wünschen, dass der Geist Jesu sich in jedem Menschen heilbringend entfalten kann.
Pfarrer Wolfgang Guttmann