Liebe Schwestern und Brüder,
wie in einer großen Familie dürfen wir Christen uns anreden als Schwestern und Brüder Jesu. Doch was ist die Familie Jesu? Die Tradition des Christentums spricht gern von der Hl. Familie: Jesus, Maria, Josef.
Ob Jesus noch Geschwister hatte? Gern wird verwiesen auf das biblische Erstaunen der Leute in Nazareth über diesen wundersamen Jesus, den sie alle genauso gut kennen wie seine Angehörigen: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“ (Mk 6,3).
Bibelforscher machen gern darauf aufmerksam, dass die Worte Bruder und Schwester nach hebräischem und aramäischem Sprachgebrauch auch als Kurzbezeichnung für Verwandte im weiteren Sinn verwendet werden können. Nicht ausgeschlossen ebenso, dass Joseph bereits schon einmal verheiratet war und der Pflegevater Jesu bereits Kinder aus einer früheren Ehe in die neue Familie mitbrachte. Zudem wird in neuerer Zeit nicht ausgeschlossen, dass Maria, die Gottesmutter, neben den vom Heiligen Geist empfangenen Sohn Gottes noch weiteren Kindern durch natürliche Zeugungsweise das Leben schenkte.
Dennoch ist Jesus nicht unbedingt ein Familienmensch. In seinem weiteren Leben verhält der Messias sich eher kontraproduktiv. Jesus wird nicht heiraten. Jesus wird andere auffordern, seinetwegen alles stehen und liegen zu lassen – auch die Familien – um des Reiches Gottes Willen. Er wird diejenigen, die den Willen seines himmlischen Vaters erfüllen, zu seinen neuen Familienangehörigen erklären. Echte Lebensregeln für eine Kleinfamilie suchen wir bei Jesus vergeblich.
Dabei ist das Thema „Familie“ für uns eines der wichtigsten überhaupt. Aber für Jesus? Man hat das Gefühl, der biblische Jesus ist weit weg vom normalen, alltäglichen Familienleben.
So scheint es, ist es aber nicht. Denn gerade dadurch, dass Jesus den üblichen Familiensinn in Frage stellt, erweist er der Familie einen großen Dienst. Denn Familiensinn ist für Jesus immer erst der Anfang aller Dinge. Also, wenn jemand Mutter, Vater, Schwester, Bruder ist, dann ist das erst der Anfang. Es geht darum, dass er auch zum „Nächsten“ wird. Das biblische Wort Nächster ist immer mit positiven Inhalten versehen. Also dem Nächsten ist Anerkennung, Achtung und Würde entgegenzubringen, erst recht in der Familie.
Familienleben ist durch alle Epochen hindurch ständigen Veränderungen unterworfen. Papst Franziskus weiß das. Der von ihm vor einem Jahr diesbezügliche herausgegebene Fragebogen an die Bistümer der Welt will die veränderten Wirklichkeiten familiären Lebens aufgreifen. Die Seelsorge hat neue Wege zu gehen. Die Familien sollen ihm dabei helfen. Diese Idee verdient große Anerkennung. Wir alle sollten ihn dabei unterstützen. Papst Franziskus vollzieht diesen Weg im Geiste Jesu.
Für Jesus ist Familie immer erst der Anfang. Erst, wenn wir vom kinderlos lebenden Jesus das Verzeihen lernen, das Vertrauen, die Hoffnung und die Liebe, dann ist die Familie auf dem besten Wege hin zu einer Gemeinschaft im Geiste Jesu.
Das sind jene Eigenschaften, die auch die Heilige Familie ausmachten. Bei Jesus, Maria, Josef kommt es in erster Linie nicht auf Blutsverwandtschaft an. Im Heiligen Geist, durch die Taufe, sind wir alle zu einer neuen Familie wiedergeboren. Jesus hat noch heute ganz viele Geschwister. Durch unsere Taufe sind wir alle Mitglieder einer großen Heiligen Familie, liebe Schwestern und liebe Brüder.
Pfarrer Wolfgang Guttmann