Der französische Philosoph Michel Foucault unterschied in den 1970er Jahren zwei Modelle von Herrschaft.
Das erste Modell entnahm er der griechischen Stadtverwaltung. Der Stadtherr oder König hatte dort vor allem die Aufgabe, die öffentliche Ordnung und Verwaltung zu organisieren. Er regierte sein Volk, indem er einen Rahmen für das Gemeinwesen schuf, innerhalb dessen sich die einzelnen Bürger frei entfalten konnten.
Das zweite Modell nennt Foucault die “Pastoralmacht”. Es stammt aus dem orientalischen und jüdischen Kontext. Der König wird verstanden als Hirte (lateinisch “pastor”), der sich persönlich um die Belange der Bürger bzw. Untertanen kümmert. Foucault kritisiert dieses Modell, weil er meint, dass durch eine persönliche Führung des Gewissens die Freiheit der Einzelnen eingeschränkt wird.
Die Bibel nimmt das “Hirtenprinzip” immer wieder auf, wenn von Gott die Rede ist. Er ist genau so ein Herrscher, der sich um die Belange jedes Einzelnen kümmert und so für Gerechtigkeit und inneren Frieden bei seinem Volk sorgt (s. z.B. Ps 23, Ps 80, Jer 23, Ez 34). In dieser Tradition nennt sich auch Jesus den guten Hirten, der seine Herde kennt und sicher leitet (Joh 10). Das Bild hat sich in der christlichen Tradition fest verwurzelt. Es ist wichtig für unsere persönliche Gottesbeziehung, zu wissen, dass unsere Bitten und Anliegen von Gott angenommen werden, dass er sich um mich als Person sorgt und kümmert. Über viele Jahrhunderte war völlig unstrittig, dass die Bischöfe und Priester diesem Hirtenprinzip verpflichtet sind. Sie sollen sich nach dem Vorbild Jesu um die Gläubigen kümmern.
Dieses Prinzip ist in die Krise geraten. Die Kritik Foucaults und anderer hat Spuren hinterlassen. Macht das Hirtenprinzip nicht den Einzelnen unfrei in seinen Entscheidungen? Wäre es nicht besser, auch die Kirche am “Verwaltungsmodell” zu orientieren, wo innerhalb eines bestimmten Rahmens (organisatorisch etwa der Pfarrei) alle Gläubigen eine ganz individuelle Glaubensprägung nach ihren eigenen Wünschen erfahren sollten. Einige Pastoraltheologen haben diesen Gedanken schon aufgenommen und fordern z. B. die bislang übliche Jahrgangskatechese abzuschaffen und die Kinder und Jugendlichen frei wählen zu lassen, ob und wann sie zur Erstkommunion oder Firmung gehen wollen. Der Pfarrer ist in einem solchen Modell zuerst ein Verwalter, der unterschiedlichste Angebote koordiniert.
Man kann sicher über vieles sprechen und vieles in Frage stellen. Aber geht eine Abkehr von der Figur des guten Hirten wirklich? So etwas wäre beispielsweise in der Familie undenkbar. Eltern tun doch mehr, als einen Rahmen für ihre Kinder zu setzen (Wohnung, Versorgung, Dienstleistungen). Sie beschäftigen sich mit ihren Kindern, indem sie für sie da sind, ihre Sicht auf die Welt prägen, sie trösten und begleiten, oder wichtige Entscheidungen für sie treffen. Das tun sie nicht, weil sie Macht über ihre Kinder gewinnen möchten, sondern, weil sie sie lieben. Die Kritik an der “Hirtensorge” übersieht diesen Punkt völlig. Die Figur des guten Hirten ist gerade deshalb eine positive Figur, weil er ein fürsorgendes und liebevolles Verhältnis zu den Seinen hat. Ein solches im besten Sinn menschliches Verhältnis, das Zuwendung, Geborgenheit und Hilfe aussagt, lässt sich nicht auf Stichworte wie “Macht” und “Einfluss” reduzieren. Es ist übrigens gerade da groß, wo es auf die Macht verzichtet und sich zugunsten der “Herde” zurückhält. Seelsorge ist im besten Fall so gedacht. Bei aller Notwendigkeit guter Verwaltung bleibt auch in Zukunft das “Hirtenprinzip” unverzichtbar – allein schon aus Treue zum Evangelium.
(Pfarrer Dr. Georg Bergner)
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