Liebe Schwestern und Brüder,
als ich 1996 in diese Quickborner Gemeinde kam, wurde ich gefragt, worin ich denn einen Schwerpunkt in meiner seelsorglichen Arbeit setzen möchte. Ich weiß noch, dass ich neben der Kinder- Jugendarbeit sowie der Stärkung der Familien auch gesagt habe, dass mir die Ökumene mir sehr am Herzen liegt.
Diese Prioritätensetzung hängt sicherlich auch mit meinen Lebenserfahrungen zusammen. Die evangelische Kirche war für mich zunächst unbekannt. Familiär wuchs ich in einem rein katholischen Umfeld auf, in Hamburg ging ich nur auf katholische Schulen. Ersten unmittelbaren Kontakt mit evangelischen Christen erhielt ich im Berufsleben. Meine Arbeitskollegen konnten es gar nicht glauben, dass ich sonntags regelmäßig zur Kirche ging.
In meiner Wandsbeker Heimatgemeinde wurden die Diskussionen während des II. Vatikanischen Konzils (1962-65) aufmerksam verfolgt. Die Zuversicht war groß, als während des Konzils das Dekret über die Ökumene (21. Nov. 1964) herausgegeben wurde. Wer dieses Dokument mit den heutigen Augen liest, wird fragen: Wo ist das Problem? Für die damalige Zeit war dieses Dekret allemal eine Sensation. Denn alle nichtkatholischen Gemeinschaften wie die evangelische Kirche wurden weniger als theologische Größen, sondern mehr als rein menschliche Zusammenschlüsse wahrgenommen. Mehr als jedes andere Konzil vorher öffnete sich das II. Vatikanum nun für den Gedanken der Ökumene. Das Konzil erkannte an, dass auch in anderen religiösen Gemeinschaften das Licht göttlicher Wahrheit leuchtet.
Sichtbares Zeichen waren die aufkommenden Feiern ökumenischer Gottesdienste. Ich war gerade 20 Jahre alt, als ich in Hamburg zum ersten Mal an einem ökumenischen Gottesdienst teilnahm. Dass wir, gleich zu welcher Konfession wir gehörten, in diesem ökumenischen Gottesdienst das Vaterunser in ein und demselben Wortlaut sprachen und uns anschließend den Friedensgruß reichten, löste in mir eine Menge aus. Wir gehören zusammen, das war unser gemeinsames Credo. Als Kontrast hatte ich immer noch den Melodievers eines Kirchenliedes im Ohr: “Wir sind im wahren Christentum, o Gott, wir danken dir.”
Mir war schon damals klar, dass Abgrenzungen dieser Art gefährlich sind. Wir alle, gleich aus welcher christlichen Tradition wir kommen, sind wir auf der Suche nach Wahrheit. Von der hl. Edith Stein (1891-1942), als große Denkerin war sie ebenfalls auf der Suche nach Wahrheit, ist der Satz überliefert: “Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.” Als Gottsuchende sind wir alle unterwegs. Das galt auch Martin Luther.
Dieses Suchen nach der Wahrheit ging für Martin Luther vor allem über die Heilige Schrift: “Sola scriptura” – nur allein die Schrift, die Heilige Schrift ist maßgeblich für sein christliches Denken und Handeln. Mit seiner berühmten Frage „Wie finde ich einen gnädigen Gott“ erweist sich der Reformator als einen nach der Wahrheit suchenden. In der Heiligen Schrift, im Brief des Apostels Paulus an die Römer, hat er die entsprechende Antwort schließlich gefunden.
Dass Martin Luther ausgerechnet am 31. Oktober sein 95 Thesen an die Pforte der Schlosskirche in Wittenberg anbrachte, ist nachvollziehbar. Denn am Tag darauf an Allerheiligen, so wusste es dieser fromme Mann, würden viele Leute zur Kirche kommen. Öffentlichkeitswirksamer konnten diese Thesen nicht unter das Volk gebracht werden.
Inzwischen aber hat sich in den Kirchen vieles geändert: die Ev.-luth. Kirche ist nicht mehr die ausschließlich protestierende Kirche und die Katholische Kirche hat ja inzwischen einen gehörigen Reformprozess durchlaufen, nicht zuletzt eben durch das II. Vatikanische Konzil. Erfreulicherweise haben wir uns daran gewöhnt: es gibt jetzt mit der evangelischen Kirche nicht mehr ein Nebeneinander, sondern ein Miteinander.
Überzeugenden Ausdruck fand die neue geistliche Geschwisterlichkeit während der Seligsprechung der Lübecker Märtyrer vor sechs Jahren. Vier in Lübeck tätige Geistliche wurden Opfer des Nationalsozialismus. Im Jahr 1943, am 10. November, wurden sie im Bereich der Hamburger Untersuchungshaftanstalt nacheinander hingerichtet. Neben drei katholischen Geistlichen, die durch Papst Benedikt seliggesprochen wurden, wurde dem vierten, mit ausdrücklicher Billigung der evangelischen Kirche, vom Papst ein ehrendes Gedenken entgegengebracht. Ein sofort nach der Hinrichtung ausgesprochener Satz hatte sich in die Herzen der Gläubigen fest eingeprägt. Dieser Satz stammt von einem längst verstorbenen Zeitzeugen dieser Lübecker Märtyrer. Dieser Satz lautet: Sage niemals drei, sage immer vier.
Ökumene kann man gar nicht dichter umschreiben, als in der Chronik festgehalten: “Innerhalb von wenigen Minuten wurden die vier Lübecker katholischen Geistlichen Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange sowie der evangelische Pastor Karl Friedrich Stellbrink hingerichtet. Sie gaben ihr Leben hin als Zeugen für Christus. Ihr Blut floss buchstäblich ineinander.”
Zeugen der Einheit, Zeugen göttlicher Wahrheit. “Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob es ihm bewusst ist oder nicht.” Die Wahrheit suchen kostet Zeit, kostet Kraft, sie kostet das ganze Leben. Und es gibt Menschen, die, wie die Lübecker Märtyrer oder die hl. Edith Stein, die für diese Wahrheit ihr Leben eingesetzt haben.
Als Christen unterschiedlicher Konfessionen wollen wir unseren Weg des Glaubens weiter miteinander gehen. Wir alle suchen die göttliche Wahrheit. Als Glaubensschwestern und als Glaubensbrüder wissen wir, dass diese Wahrheit ein Antlitz hat und einen Namen trägt: Jesus Christus. Als Sohn Gottes wird er sagen: “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben” (Joh 14,6).
(Pfarrer Wolfgang Guttmann)
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