Liebe Schwestern und Brüder,
„Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt. Diesen poetischen Vers haben Sie vielleicht schon einmal gehört. Er stammt von Freiherr Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772–1801), genannt Novalis. Diese Gedanken kamen in ihm auf in Dresden beim Anblick der Sixtinischen Madonna. Der Dichter und Schriftsteller bestaunt ihre Anmut. Als evangelischer Christ tut er es über alle konfessionellen Bereiche hinweg. Der Anblick des Marienbildes muss auf den sensiblen Mann einen außerordentlichen Eindruck gemacht haben.
Welche Bilder steigen in uns auf, wenn wir an Maria denken, die eine Verehrung auf der Welt erfährt, wie es keine andere Frau, ja nicht einmal die begehrteste Filmschönheit, erfahren kann?
Dass wir in Christentum überhaupt Bilder von heiligen Gestalten kennen, haben wir der Ostkirche zu verdanken. Denn das jüdische Bilderverbot reichte noch viele Jahrhunderte in die in die Christentumsgeschichte hinein. Erst das II. Konzil von Nicäa 787 wagte einen neuen Weg. Ab dieser Zeit wurde es mehr und mehr üblich, nach lang anhaltendem Bilderstreit die Verehrung von Ikonen, also Heiligenbildern, zuzulassen.
Diese religiöse Gepflogenheit wanderte mehr und mehr in die Westkirche hinein und glich sich der westlichen Kultur an. Ein kleines Zeichen dafür ist auch das verehrte Ikonenbild in unserer Kirche. Diese sehenswerte Mariendarstellung kommt eigentlich aus der Ostkirche und erhielt durch Überarbeitungen im Laufe der Zeit mehr und mehr westliche Züge. Beim Betrachten dieser Ikone könnte jeder ähnlich wie Novalis denken: „Ich sehe Dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann Dich schildern, wie meine Seele Dich erblickt.“
Wenn ich unser Ikonenbild betrachte, dann bin ich dankbar darüber, dass Maria eine konkrete geschichtliche Gestalt ist. Sie hat gelebt wie du und ich. Maria hebt sich wohltuend ab von antiken Figuren der Mythologie. Diese können mit unterschiedlichen Gesichtern auftreten, teilweise gewiss edel, teilweise aber auch ganz schön gerissen.
Mit Maria dagegen begegnet uns eine Gestalt, deren Bild nie belastend, nie beängstigend, nie irritierend ist. Im Gegenteil: Maria ist in ihrer Echtheit für unzählige Menschen das Zeichen der Hoffnung. Sie hat diese Hoffnung gelebt. Wie viele andere Frauen auch bringt sie ein Kind zur Welt. Allerdings vermittelt ihr diese Geburt in der Christentumsgeschichte einen Beinamen: Maria ist die Theotokos – die Gottesgebärerin. Durch Maria kommt Gott zur Welt. Und Maria reicht uns dieses Kind uns weiter – uns zum Heil.
Deswegen: Wenn ich auf das schöne Ikonenbild in unserer Kirche blicke, dann entdecke ich Maria als eine Frau, die im Hinblick auf das Kreuzesgeschehen ihres Sohnes nichts beschönigt, sie aber auch nicht anklagt. Es ist so, als wenn Maria in den Tiefenschichten ihrer Seele bereits vieles ahnt von der Sehnsucht Gottes zu uns Menschen. Maria, Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. Entsprechend heißt es in einer Litanei: Maria ist der Sitz der Weisheit.
Jeder mag sein eigenes Bild von Maria in sich aufsteigen lassen und sich erinnern an eine Frau, die sich von Gott in liebender Erwählung angeschaut weiß und die ein solches Ansehen unter den Menschen gewonnen hat wie keine vor ihr und keine nach ihr. Lassen wir uns, wie der Dichter Novalis, unser inneres Bild von Maria nicht nehmen: „Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt.“
(Pfarrer Wolfgang Guttmann)
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