Siebenundsiebzigmal – nach oben hin offen …

Liebe Schwestern und Brüder,

unter den Vorzeichen der Vergebung stand vor wenigen Tagen die Reise von Papst Franziskus nach Kolumbien. Nach Jahrzehnten der Gewalt rief der Heilige Vater die Menschen zur Versöhnung auf. Bei einem Freiluftgottesdienst in Bogotá verurteilte der Papst die, wie er sagte, “Finsternis der Rachsucht und des Hasses”. Auch von Rückschlägen auf dem Weg zu Frieden solle man sich nicht entmutigen lassen. Trotz Friedensvertrag sind die Rebellen der Guerillaorganisation Farc für viele Kolumbianer nach wie vor verhasste Kriminelle.

Die Bereitschaft zur Vergebung tut weh. Das Entgegengesetzte von Vergebung wäre Rache. Und Rachegedanken werden, wenn wir ehrlich sind, in einem jedem von uns gehegt. Vergeltung hat sich so tief in das Empfinden der Menschen eingebrannt. Oft ist für Vergebung in unserem Innern kein Platz.

Wir hören im Evangelium die Worte Jesu, wie oft wir zu vergeben hätten: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal“ (Mt 18,22). Es will heißen: Vergebung kennt keine Grenze, Vergebung ist nach oben hin offen. Da wir einem schwindelig, wenn man das hört. Man hat das Gefühl, man verliert sich selbst, seine eigene Identität. Man braucht allerdings schon Identitätsstärke, um tatsächlich maßlos vergeben zu können. Gott zeigt sie, er selber. Wenn es eine Motiv gibt, was Christen zu einer grenzenlosen Vergebung bereit sein lassen, dann gibt es nur eine Antwort: weil Gott es auch tut.

Aus dem Bereich der Schöpfungsmythologie gibt es eine schöne Geschichte. Sie ist nah mit der biblischen Wirklichkeit verbunden. Die Geschichte weiß davon, dass nicht einmal einige Engel im Himmel die Versöhnungsbereitschaft Gottes wahrhaben wollten.

Die Engel, so die Schöpfungsmythologie, waren schon immer vollkommene und zuvorkommende Wesen. Sie übertrafen sich in ihrem Dienst für Gott. Nie gab es Ärger oder Streit. Natürlich sprach Gott mit den Engeln über alles, was ihm in den Sinn kam und vertraute es ihn an.

Eines Tages stellte Gott ihnen seine neueste Idee vor: Er sagte: „Ich habe mir überlegt, etwas zu schaffen, etwas mit Wasser und Land, mit Pflanzen und Tieren, ja sogar den Menschen. Was haltet ihr davon?” Der Plan Gottes stand nun fest. Jetzt geschah jedoch etwas, was es noch nie gab: Einer von ihnen, er hieß Luzifer, regte sich fürchterlich darüber auf. Er war strikt gegen diesen Plan und sagte das auch mit aller Deutlichkeit.

Luzifer ging davon aus, dass mit dem Entstehen, dem Werden des Universums, des Kosmos, in der Welt auch viel Unvollkommenheiten da sein werden, dass es auf der Welt mit dem Glück auch Leid, mit dem Guten auch Böses, mit dem Schönen auch Schlimmes geben würde. Und das wollte Luzifer nicht. Luzifer wollte nur das Reine, nur das Edle, nur das Schöne. Luzifer wollte nur Licht, aber keinen Schatten.

Diese Einstellung ist eigentlich nicht schlecht, würden wir sagen. Aber jetzt kommt‘s: die unvorstellbaren Gedanken Gottes gipfelten in der für Luzifer unfassbaren Idee: um dem Leid, um dem Bösen in der Entwicklung der Schöpfung keine Zukunftsmöglichkeit zu geben, wollte Gott seinen Sohn auf die Erde schicken, geboren von einem Menschen, geboren von einer Frau.

Das brachte Luzifer in Rage. Er wollte nicht, dass das göttliche und das menschliche sich verbinden. Luzifer wollte keine Welt, wie Gott sie haben wollte und wie wir sie kennen und mögen. Deshalb ist Luzifer zusammenmit seinen Mitengeln, nachdem er vom Erzengel Michael vom Himmel verbannt und in die Unterwelt gestoßen wurde, noch heute wie verrückt hinter allem Bösen her. So richtet er nichts anderes als Unheil und Zerstörung an.

Die erstaunliche Schlussfolgerung: Gott kann mit dem Unzulänglichen sowie dem Bösen viel besser umgehen als wir denken.

Ich mag diese Geschichte. Sie gibt eine Deutung für die vielen gebrochenen Beziehungslinien in unserer Welt. Von dieser Gebrochenheit weiß auch Jesus. Nicht umsonst wird er in seinem Gebet, dem Vaterunser, die Bitte um die Vergebung unserer Schuld ausdrücklich einfließen lassen. Im Originalton Jesu lautet diese Bitte aber anders. Sie lautet: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben“ (Mt 6,12).

Merken sie den Unterschied? Hier wird der Augenblick der Vergebung nicht offen gelassen. Jesus setzt voraus, dass sie bereits erfolgt ist. Tatsächlich gab es bereits in der frühen Kirche fromme Christen, die sich mit dem Beten dieses Originaltones Jesu schwer taten. Was hat man gemacht? Das Gebet wurde inhaltlich geglättet, entschärft. Das Ergebnis beten wir noch heute: „Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Die Bibel weiß nicht nur alleinviel über Gott, die Bibel weiß vor allem aber noch mehr über den Menschen, wie raffiniert er sein kann und wie er in allem seinen Vorteil sucht. Gott kann dagegen mit dem Unzulänglichen und dem Bösen weit besser umgehen als wir Menschen. Also orientieren wir uns an Gott, orientieren wir uns an Jesus.

Die maßlose Bereitschaft zur Vergebung ist ein Schlüssel für ein gelingendes Zusammenleben der Menschen. Das weiß Jesus. Deswegen fügt er auch die Bitte um Vergebung in das Vaterunser ein. Vergebung gehört zum Leben dazu, ohne Vergebung können wir nicht leben. In keinen anderen Schriften erfährt das Phänomen der Vergebung einen so hohen Stellenwert, wie im in der Botschaft Jesu. Da ist Jesus konkurrenzlos.

Es bedeutet: wenn alle Menschen auf der Erde sich an dieser Botschaft Jesu orientieren würden, wir hätten zwar noch nicht das Paradies auf Erden, aber die Menschen würden weitaus mehr versöhnt und in Frieden miteinander leben. „Dein Reich komme“, so beten wir im Vaterunser. Das Reich Gottes komme ein Stück auch durch einen jeden von uns.

(Pfarrer Wolfgang Guttmann)