Liebe Schwestern und Brüder,
“So spricht der Herr: Wahrt das Recht und sorgt für Gerechtigkeit; denn bald kommt von mir das Heil, meine Gerechtigkeit wird sich bald offenbaren” (Jes 56,1).
Starke Worte des Propheten Jesaja, in der heutigen Lesung. Wir Menschen haben von Gott Gerechtigkeit zu erwarten, die für uns das Heil bedeutet, aber wenn man genau hinhört, ist dieses Versprechen an eine Bedingung geknüpft: um das Heil zu erlangen, sollen wir selber das Recht wahren und für Gerechtigkeit
sorgen. Ein klarer Auftrag.
Einfach abwarten, bis Gottes Heil uns erreicht, genügt nicht: Wir müssen selbst etwas tun. Was aber erwartet Gott von den Menschen? Das Recht wahren und für Gerechtigkeit sorgen, das hört sich gut an. Wer sollte etwas dagegen haben, wollen wir das nicht alle?
Zu allen Zeiten hat es in den Gesellschaftssystemen der Menschen Regeln zur Festsetzung des Rechts und der Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft gegeben, mal mehr auf den Herrschaftsanspruch der Regierenden ausgerichtet, mal demokratischer, so dass auch einfache Bürger “zu ihrem Recht” kommen können. Und es hat auch immer schon Sanktionen gegen die Verletzung von Rechten, gegen die Übertretung von Gesetzen, Regeln und Vorschriften gegeben.
Wir reden von Menschenrechten und Grundrechten, von Persönlichkeitsrechten, vom Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Religionsfreiheit und darauf, nicht diskriminiert zu werden. Eine Vielzahl weiterer Rechte könnte man aufzählen. Ebenso lang wäre die Liste der Verbote, die verhindern sollen, dass die Rechte anderer und der Gemeinschaft beeinträchtigt werden. Gerecht soll es zugehen, nach Recht und Gesetz wollen wir leben und behandelt werden.
Da sind wir wieder bei der Gerechtigkeit, für die wir nicht nur nach der Meinung der Menschen, sondern auch nach Gottes Willen sorgen sollen, um schließlich zum Heil zu gelangen. Was bedeutet aber Gerechtigkeit, was ist gerecht?
Gerechtigkeit ist etwas Wertvolles, etwas Positives, wir wollen sie alle. Sie hat irgendetwas mit Gleichbehandlung zu tun, mit gleichen Maßstäben, mit gleicher Anwendung von Regeln, mit gleicher Befriedigung von Bedürfnissen und Ansprüchen, mit gleicher Würde, aber auch mit gleichen Pflichten und der notwendigen Einordnung in eine soziale Gemeinschaft. Und da fängt das Dilemma an.
Menschen gleich zu behandeln oder zu beurteilen, kann gerecht, aber auch total ungerecht sein, wie wir alle wissen, wenn man gewisse Unterschiede in ihrer Persönlichkeit, ihrer Herkunft, Erziehung, Bildung, ihrer Lebensgeschichte, ihren finanziellen Verhältnissen, ihren aktuellen Problemen usw. nicht berücksichtigt.
Beispiele dafür gibt es aus allen Lebensbereichen. Man braucht z.B. nur an die Stichworte “Chancengleichheit”, “gleicher Lohn für gleiche Arbeit” usw. zu denken. Wie soll das gehen bei unterschiedlichen Voraussetzungen? Noch schwieriger wird es vor Gericht. Gleiches Strafmaß für gleiche Vergehen, egal, wer oder unter welchen Umständen einer sie verübt hat? Ist das gerecht oder ungerecht? Auch über die Gesetzgebung kann man nachdenken. Als gottgegebenes Regelwerk haben wir die 10 Gebote und das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe.
Aber es gibt ja auch menschliche, von Staat zu Staat und von Zeitalter zu Zeitalter unterschiedliche Gesetze. Wie oft widersprechen sie, besonders bei fragwürdigen ideologischen Machtverhältnissen oder diktatorischen Regimen, den erwähnten göttlichen Geboten oder auch nur dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden, d.h. dem Gewissen. Welchem Recht bzw. welchen Geboten soll man dann folgen? Müsste man sich dann manchmal nicht sogar gegen die herrschenden Gesetze stellen?
In der Heiligen Schrift kann man nachlesen, dass Jesus sich öfter im Zwiespalt befand zwischen dem jüdischen Recht und seiner Überzeugung. So hat er z.B. befürwortet, dass das Sabbatgebot keinen Vorrang habe vor einer Hilfeleistung, er hat die Händler aus dem Tempel getrieben, die sicher eine Konzession für ihren Handel hatten, er hat immer wieder die Barmherzigkeit über die Vorschriften gestellt. Er hat dabei nicht nach dem geltenden Recht, aber er hat richtig gehandelt.
Auch weitere Beispiele gibt es, die uns deutlich machen, dass Jesus durchaus nicht immer die “gerechte” Befolgung von Regeln anmahnt, sondern Großzügigkeit, Milde und Barmherzigkeit den Vorzug gibt. Man denke an das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die auch nach kurzer Arbeitszeit einen vollen Tageslohn
bekamen, aber auch an seinen unkonventionellen Umgang mit dem verachteten Zöllner Zachäus oder der Sünderin Magdalena, der auf seine Umwelt sogar anstößig gewirkt haben muss.
Geht es uns nicht auch so, dass wir immer dann “gerecht” behandelt werden wollen, wenn es um unseren Vorteil geht, aber keineswegs auf “Gerechtigkeit” bestehen, wenn wir uns etwas haben zuschulden kommen lassen? Wir atmen doch alle auf, wenn uns ein Fehler nicht übel genommen wird, wenn wir mit einer Lüge durchkommen, wenn eine Schummelei bei der Steuererklärung unentdeckt bleibt oder wenn wir zu schnell oder mit Alkohol am Steuer fahren und gerade kein Blitzer und keine Polizei in der Nähe sind. Und wir sind dankbar, wenn jemand großzügig über einen Schaden hinweg sieht, den wir angerichtet, oder uns ohne Vorwürfe aus einer Patsche hilft, in die wir uns hineingeritten haben. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt uns auch hier, wie Jesus mit Milde reagiert, wo andere harte Konsequenzen fordern würden.
Aus all diesen Überlegungen ergeben sich für mich folgende Schlussfolgerungen: Die Heilige Schrift sagt, dass wir einen göttlichen Auftrag haben, nach Kräften für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Jedes menschliche Gesetz und jedes menschliche Urteil, auch und gerade unser eigenes, sollte sich daher an den göttlichen Geboten messen lassen, und zwar nicht nur an den 10 Geboten, sondern vor allem an den Geboten der Liebe. Jesus hat es uns mit seiner Barmherzigkeit vorgemacht und uns damit ein Beispiel gegeben.
Das Recht wahren heißt also richtig handeln, d.h. sehr wohl nach den Buchstaben der Gebote, aber vor allem und noch mehr nach
den Geboten der Liebe. Nur so können wir Gottes Auftrag erfüllen und wirklich zur Gerechtigkeit kommen, wie es sein Wille ist. Und nur so finden wir letztlich zu jenem Heil, das Gott uns versprochen hat.
(Sabine Heckmann)
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