Liebe Schwestern und Brüder,
stellen wir uns vor, wir wären Abgeordnete im Parlament und hätten an Formulierungen und Beschlüssen von Gesetzen mitzuwirken. Für manche ist dieser Gedanke abwegig, andere betrachten es als vornehme Aufgabe, auf diese Weise die Gesellschaft mitzugestalten. Denn ohne Gesetze kommt eine Gesellschaft nicht aus. Öffentliches Leben braucht gesetzliche Spielregeln.
Auch Jesus weiß das. Geltende Gesetze und Gebote bestätigt er sogar. Aber zugleich warnt er. Der Schlüsselsatz seiner Predigt lautet: “Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer” (Mt 5,20).
Was wäre denn pharisäerhaft? In unserem Verständnis bedeutet es: da stimmt etwas nicht überein. Also: ein Pharisäer mag wohl auf die Einhaltung eines Gebotes bestehen, das heißt aber noch lange nicht, dass der Sinngehalt plausibel ist. So äußert Jesus den Pharisäern gegenüber seine Kritik hinsichtlich des Sabbatgebotes. Tätigkeiten durften am Sabbat nicht verrichtet werden, selbst dann nicht, wenn diese Tätigkeiten dienlich waren oder Leben retteten. Jesus wird den Pharisäern vorwerfen: “Der Sabbat ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für den Sabbat” (Mk 2,27). Ein Gesetz wird hohl, wenn der Sinn ist nicht mehr verständlich ist. Die bloße Befolgung eines Gesetzes ohne Sinngehalt trägt in sich etwas Heuchlerisches, etwas Scheinheiliges. Der Apostel Paulus wird feststellen: “Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig” (2 Kor 3,6).
Wegen eines Gesetzes aus dem Kirchenrecht erleben wir seit Jahren in unserer Kirche eine lebhafte Diskussion. Es geht um die Unauflöslichkeit der Ehe. In seiner im März 2016 herausgegebenen Enzyklika “Amoris Laetitia – Die Freude der Liebe”, in der der Heilige Vater an der Unauflöslichkeit der Ehe festhält, eröffnet Papst Franziskus wiederverheiratet Geschiedenen dennoch in Einzelfällen ausdrücklich den Zugang zu den Sakramenten. Kritiker meinen, der Papst stifte damit Verwirrung, weil dieser neu eingeschlagene Weg der Unauflöslichkeit der Ehe widerspreche. Mit einer aktuellen Verlautbarung von Februar d. J. stellen sich nun die deutschen Bischöfe hinter den Heiligen Vater. Auch sie sehen die Möglichkeit, dass wiederverheiratet Geschiedene in begründeten Einzelfällen die Sakramente der Kirche empfangen können. Schließlich, so ihre Argumentation, widerspreche es der Logik des Evangeliums, wenn Menschen auf ewig verurteilt werden.
Auch unser Hamburger Erzbischof ist von der päpstlichen Enzyklika Amoris Laetitia angetan. Diejenigen, die in der Seelsorge tätig sind, hat Erzbischof Stefan daher zu einem Studientag in die Katholische Akademie eingeladen. Mitte März soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten aber auch welche Erfordernisse sich nun für die künftige Seelsorge ergeben. Die Kirche kann Gewissensbildung nicht ersetzen, die Kirche kann aber dabei helfen, das Gewissen jedes Einzelnen sensibler zu machen.
Auch die Kirche kann Gefahr laufen, sich bei der Frage im Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen pharisäerhaft zu verhalten. Die Kirche hat biblischen Grund, an der Unauflöslichkeit der Ehe auch weiterhin festzuhalten. Sie hat aber auch zu berücksichtigen, dass es Jesus nicht in erster Linie um die Einhaltung einer ganz bestimmten Ordnung geht. Jesus geht es vielmehr um den Menschen. Die Ordnung der Ehe tut dem Menschen gut, darum soll sie auch geschützt bleiben. Aber es geht nicht allein um die Wahrung einer Ordnung, es geht um den Menschen.
Durch seine Beispiele macht Jesus deutlich, dass im Reich Gottes für ihn andere Maßstäbe gelten, Maßstäbe, in denen das Gebot der Liebe aufleuchtet. Denken wir nur an das Beispiel Jesus und die Ehebrecherin. Laut biblischem Gesetz ist sie zu steinigen. Jesus aber sagt: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie” (Joh 8,7) Niemand wagt es. Vergebend und mit dem Hinweis, nicht mehr zu sündigen, lässt auch Jesus sie gehen.
Oder das Gleichnis Jesu vom verloren Sohn. Der barmherzige Vater schleppt ihn nicht vors Gericht, bestraft ihn nicht. Vielmehr läuft er dem heimkehrenden Sohn entgegen und lässt für ihn ein Festmahl herrichten. Hinter allem, was Jesus tut und sagt, steht die Lebensweisheit: was einen Menschen wirklich verändert, sind nicht Ordnungsprinzipien, sondern es ist die Wärme der Liebe.
Bis heute hat das Christentum die Botschaft Jesu so verstanden. Natürlich brauchen wir Menschen Gebote und Gesetze, an denen wir unser Leben ausrichten. Ein Christ darf jedoch nie vergessen, dass hinter allen Gesetzen das Gebot der Liebe zu stehen hat: “Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben” (Joh 13,34) wird Jesus sagen.
Viele Heilige haben alles daran gesetzt, dem Gebot der Liebe zum Durchbruch zu verhelfen. Einer davon war der hl. Franz von Sales (1567-1622). In schwerer Zeit war er als Bischof von Genf beträchtlich herausgefordert. In seiner persönlichen Not, in akuten Fällen zu einer klugen und gerechten Urteilsfindung zu kommen, wird er einmal bemerken: “Zu viel und zu wenig nachsichtig sein, beides ist gefehlt. Es ist für uns Menschen hart, die Mitte auszuhalten; doch wenn ich fehle, will ich lieber durch größere Milde, als durch zu große Strenge fehlen.”
Was wäre, wenn unsere eigene Urteilsfindung sich an dieser orientieren würde? Dem Gebot der Liebe, von dem Jesus spricht, ist sie jedenfalls sehr nahe.
(Pfarrer Wolfgang Guttmann)
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