Liebe Schwestern und Brüder,
stell dir vor, es ist Fastenzeit, und keiner merkt es! Ist es nicht so? Wer nimmt schon die Fastenzeit zur Kenntnis? Ist Fasten überholt? Gewiss, es gibt Diätfasten mit dem Hinweis auf gesunde Ernähung. Auch Fastenkuren passen in dieses Muster. Aber mit dem Stichwort ‚Fasten‘ gibt es allemal Vermittlungsprobleme nicht zuletzt dann, wenn Fasten auf den Verzicht von Wohlstandsgewohnheiten reduziert wird.
Die Fastenzeit, so die Uridee, will das Lebensgefühl nicht einengen, sondern weiten. Denn wer sich auf unbegrenzten Genuss fixiert, engt die Chancen seines Lebens ein. Jesus mahnt, dabei nicht falschen Göttern hinterherzulaufen. Gott ist ein Gott der Freiheit.
Zugleich ist Jesus auch ein Freund davon, das Ringen um ein sinnvolles Fasten nicht an die große Glocke zu hängen. Jesus weiß um die Versuchung zur Scheinheiligkeit: „Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage ich euch: sie haben ihren Lohn bereits erhalten“ (Mt 6,16). Es macht, so gesehen, schon Sinn zu sagen: „Stell dir vor, es ist Fastenzeit, und keiner merkt es.“ Die fehlende Öffentlichkeit kann einem dabei willkommen sein.
Allerdings gibt es ein Fasten, dass nicht hoch genug an die große Glocke gehängt werden kann. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen“ (58,6-7).
Bei den weltweit erschütternden Lebensschicksalen, die Amnesty-International in diesen Tagen in seinem Jahresbericht 2014 veröffentlicht, wäre diese Art von Fasten für unzählige Menschen das Zeichen der Hoffnung schlechthin. Zum Wohle des Menschseins hat die Bibel in so vielen Dingen Recht. Warum setzen einflussreiche Leute das nicht um und dienen anderen Göttern, die sie am Ende versklaven? Eine Ausrichtung an dem Gott der Heiligen Schrift täte auch ihnen gut.
Stell dir vor, es ist Fastenzeit, und die ihrer Freiheit beraubten und gedemütigten Menschen bekämen es wohltuend zu spüren. Jesus könnte sich das allemal vorstellen. Und wir?
Pfarrer Wolfgang Guttmann